"Israel versteht nur die Sprache der Gewalt"

Israel versteht Sprache Gewalt
Israel versteht Sprache GewaltAP Bernat Armangue
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Vorerst hält die Waffenruhe im Gazastreifen. Doch während noch die Trümmer beseitigt und die Schäden repariert werden, rechnen manche schon mit dem nächsten Waffengang. Ein Lokalaugenschein.

Sie schwenken Fahnen und singen patriotische Lieder von der Befreiung Palästinas. Nach fast zehn Stunden Busfahrt und mehr als acht Stunden Wartezeit am ägyptischen Grenzübergang Rafah haben die rund 300 überwiegend jungen Leute noch verblüffend viel gute Laune und Elan: „Wir sind alle aus Kairo und wollen nach Gaza“, sagt Erkan, einer der Wartenden, mit deutlichem österreichischen Dialekt. Der 25-Jährige hat türkische Wurzeln und ist in Wien aufgewachsen, lebt aber seit sieben Jahren in Kairo: „Ich studiere dort Aufruf zum Islam“, erklärt er stolz und zupft sich dabei am zotteligen Vollbart, der seine religiöse Gesinnung unterstreicht.

Er, als anerkannter Aktivist für die Rechte der Palästinenser, könne nach Gaza einreisen, ob aber auch sein Freund, der vor dem Torgitter steht, und der Rest passieren dürfen, sei ungewiss. In Erkans Gesicht ist große Enttäuschung zu erkennen. Alle haben sich das anders vorgestellt. Nach dem Waffenstillstand zwischen Israel und Hamas dachte man, der Grenzübergang würde geöffnet. Schließlich war „die Öffnung und die Erleichterung des Personen- und Warenverkehrs“ ein Bestandteil des Abkommens. Aber bisher ist alles noch beim Alten, und der Reiseverkehr streng reglementiert. Delegationen der Islamischen Union oder muslimischer Geistlicher dürfen ungehindert einreisen. Alle anderen brauchen spezielle, meist aufwendig zu beschaffende Genehmigungen, und der Grenzübertritt dauert Stunden. „Wenn Sie wollen, gehen wir durch einen der Tunnels“, bietet Same, ein junger Bewohner aus Gaza an. „Keine zehn Minuten von hier. Das geht viel schneller und bequemer“, fügt er lachend hinzu. „Nur 500 Meter unter der Erde, und man kann sogar aufrecht gehen.“


Bombardierte Tunnels. Fast 200-mal hat die israelische Luftwaffe die Tunnels, die unter der 15 km langen Grenze führen, bombardiert. Unterirdisch werden nicht nur Lebensmittel oder Benzin nach Gaza geschmuggelt, sondern auch die Raketen, mit denen Islamischer Jihad und Hamas Israel beschießen. „Es gibt noch viele, die funktionieren“, sagt Ahmed, der mit fünf Kollegen einen beschädigten Tunnel repariert. Er deutet mit der Hand nach hinten über ein weites, offenes Gelände, das von Bombenkratern übersät ist. Abends sieht man dort einige Lichter an Eingängen brennen.

„Wie hoch der Schaden bei uns ist, wissen wir noch nicht“, erklärt Ahmed. Man müsse sich erst vorarbeiten. Gerade wird an einer elektrischen Seilwinde ein Karren mit Erde aus der Röhre gezogen, entladen und leer wieder hinuntergelassen. In nur einem Tag haben Ahmed und seine Helfer das große Dach über ihrer Arbeitsstätte wieder aufgebaut sowie Generator und Seilwinde in Gang gebracht. „Alles war komplett zerstört“, erzählt Mohammed: „Wir müssen uns beeilen, um alles wieder in Schuss zu bekommen.“ Zeit ist hier Geld, solange die Grenzen nicht geöffnet sind. Zwischen 35 und 50 Euro verdient hier jeder, wenn der Warenverkehr durch ihren 800 Meter langen Tunnel läuft. In der Röhre selbst kommt man bei feucht heißer, modriger Luft sofort ins Schwitzen. Alles ist professionell mit Holzplanken ausgelegt und mit Lampen erleuchtet, man kann aber nur in gebückter Haltung in die Tiefe marschieren.

Unterirdisch werden in Gaza nicht nur kommerzielle Geschäfte gemacht. Die militärische Struktur der Hamas liegt ebenfalls unter der Erde. Es soll ein ausgeklügeltes Tunnelsystem sein, das sich unter dem gesamten Gazastreifen hinzieht. Bunker, Abschussrampen und Munitionsdepots. Israels Angriffe haben nur einen Teil zerstört. Noch am letzten Tag vor Inkrafttreten des Waffenstillstands wurden weit über 150 Raketen auf Israel abgeschossen. „Dieses Tunnelsystem ist ein offenes Geheimnis“, sagt Hassan Jaber, Journalist aus Gaza: Natürlich wisse niemand Details. „Aber im Winter, wenn es stark regnet, kann es passieren, dass eine Straße absackt“, meint er schmunzelnd.


Radikaler als die Hamas. Ein Mann, der seinen Namen nicht nennen will, sagt, er war während der Kriegswoche die ganze Zeit in diesem Bunkersystem. Als Angehöriger einer radikalsalafistischen Gruppe saß er in Haft, wurde aber von der Hamas entlassen, um ihr zu helfen. Militante Salafisten sind bekannt für ihren Hass auf Israel. In Gaza hat die Hamas keine volle Kontrolle über sie. Die salafistischen Organisationen sind für den bedingungslosen Jihad gegen Israel und feuern in Eigeninitiative Raketen ab.

Die Zerstörungen im Gazastreifen halten sich überraschenderweise relativ in Grenzen. Israels Luftwaffe flog 1200 Angriffe, doppelt so viele wie im Krieg 2008/09, aber die Schäden sind weit geringer als damals. Viele Bomben fielen außerhalb bewohnter Zonen, auf den Strand oder auf Felder, wo man Abschussrampen oder Bunker vermutete. Das israelische Militär ist sehr gezielt vorgegangen. Trotzdem sind von den mehr als 150 Toten in Gaza weit über die Hälfte Zivilisten.


Zehn Familienmitglieder getötet. Im Stadtviertel von al-Nasseb in Gazastadt hat Familie al-Dalu nach dem Waffenstillstand endlich Zeit für die Beerdigungsfeier. Sie verlor bei einem Bombenangriff zehn ihrer Mitglieder, vier Kinder und sechs Frauen. Hunderte Männer sind gekommen, ihr Beileid zu bekunden. Man sitzt unter einem großen Plastikdach, auf einem Banner sind die Gesichter der getöteten Kinder abgedruckt, aus Lautsprechern dröhnen nationale Lieder über den palästinensischen Befreiungskampf. Dazu wehen grüne Flaggen der Hamas. „Ein schreckliches Massaker“, sagt ein Cousin der getöteten Kinder. „Aber wir haben mit dem Waffenstillstand einen moralischen Sieg errungen.“

Nicht anders sehen es fünf junge Männer im Café gleich um die Ecke: „Kein Preis ist zu hoch im Kampf für unsere Rechte“, meint Imad, ein 28-jähriger Schreiner, der an einer Wasserpfeife nuckelt. „Israel versteht nur die Sprache der Gewalt“, fügt Dib, der junge Besitzer des Cafés hinzu: „Wenn wir keine Raketen nach Tel Aviv geschossen hätten, gäbe es jetzt keinen Frieden.“ Alle sind überzeugt, mit dem Waffenstillstand hätte Israel seine Niederlage eingestanden. Sieg ist für sie gleichbedeutend mit der Aufhebung der Blockade Gazas, von der man sich ein neues, besseres Leben verspricht.

Nur gibt es bisher noch keine Anzeichen für eine komplette Öffnung der Grenzübergänge, die sich hier alle so wünschen. „Wenn Israel sich nicht an die Abmachungen hält, fliegen eben wieder Raketen“, fügt Imad hinzu. Alle am Tisch nicken zustimmend. „Nun gut, es werden als Reaktion erneut Bomben über unsere Köpfe fallen“, räumt Dib, der Café-Besitzer, ein. „Trotzdem versichere ich Ihnen, wir werden den Kampf gegen Israel nie aufgeben, solange wir nicht gleichberechtigt sind und Jerusalem die Hauptstadt unseres Staates ist. Und wenn die Kinder meiner Kinder noch dafür kämpfen werden.“

Ein Wüstenstreifen als Konfliktherd

Der Gazastreifen ist nur rund 360 km² groß, in dem teils nur sechs km breiten Gebieten leben allerdings rund 1,7 Mio. Einwohner. 1967 von Israel im Sechstagekrieg besetzt, zog die Armee unter Räumung sämtlicher Siedlungen 2004 wieder ab. 2007 vertrieb die radikalislamische Hamas die gemäßigte Fatah aus dem Gazastreifen.

Israel verhängte daraufhin eine Blockade und erklärte den Gazastreifen zum feindlichen Gebiet. Die Bodenoffensive Israels zum Jahreswechsel 2008/2009 wurde zum PR-Desaster: Bis zu 1400 Palästinenser und 13 Israelis wurden getötet. Ende Mai 2010 versuchten Schiffe die Blockade zu durchbrechen. Israels Marine fing sie ab und tötete neun türkische Aktivisten, was das Verhältnis zu Ankara schwer belastete.

Chronologie

14. November
Bei einem israelischen Luftangriff wird Ahmed al-Jebari getötet, der Militärchef der Hamas.

15. November
Die Islamisten verstärken zur Vergeltung ihre Raketenangriffe massiv. Erstmals seit 1991 gibt es in Tel Aviv wieder Luftalarm.

16. November
Ägyptens Premier Hisam Kandil reist in den Gazastreifen, um zu vermitteln, vorerst allerdings erfolglos.

17. November
Israel weitet seine Luftangriffe aus und zerstört in Gaza-Stadt das Regierungsgebäude der herrschenden Hamas.

18. November
Die Arabische Liga schaltet sich in die Vermittlungsversuche ein und sendet Emissäre nach Gaza.

19. November

Der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan nennt Israel einen „terroristischen Staat“.

20. November

Die erste Ankündigung einer Waffenruhe durch die Hamas erweist sich als verfrüht.

21. November
Diesmal kommt die von Ägypten vermittelte Einigung zustande, die Waffenruhe hält vorerst.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.11.2012)

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