"Heute fühlen sich beide als Gewinner"

(c) Privat
  • Drucken

Soziologe Pavel Haulik erklärt, warum trotz Nostalgie niemand die Tschechoslowakei zurückhaben will.

Die Presse: Wie konnte die Tschechoslowakei vor zwanzig Jahren geteilt werden, obwohl alle damaligen Umfragen zeigten, dass eine klare Mehrheit der Tschechen, und erst recht der Slowaken, die Trennung ablehnte?

Pavel Haulik: Die Teilung kam nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Schon seit der Gründung der Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg trug der gemeinsame Staat das Kernproblem in sich: Er hatte das Verhältnis der beiden Nationen zueinander nicht geklärt. Für die Tschechen als doppelt so große und wirtschaftlich stärkere Nation wäre immer ein möglichst zentralistischer Staat von Vorteil gewesen, die Slowaken hingegen wollten eine möglichst weitreichende Autonomie. Als im Jahr 1992 in den beiden Landesteilen jeweils sehr gegensätzliche Kräfte die Wahlen gewannen (Anm.: Die zentralistische Bürgerpartei des heutigen Staatspräsidenten Václav Klaus in Tschechien und die von Vladimír Mečiar geführte autonomistische Bewegung für eine Demokratische Slowakei im kleineren Landesteil siegten jeweils mit einer großen Mehrheit), bestätigte das lediglich dieses ungeklärte Problem, dass bis zum Schluss nie eine von beiden Seiten akzeptierte gemeinsame Verfassung beschlossen worden war.

Warum gab es keine Massenproteste dagegen, dass nicht einmal ein Referendum über die Teilung der Tschechoslowakei abgehalten wurde?

Ein Referendum hätte zwar sicher mit großer Mehrheit bestätigt, dass fast alle den gemeinsamen Staat beibehalten wollten. Es hätte aber keine Antwort auf die offene Frage gegeben, wie dieser gemeinsame Staat aussehen sollte.

Die Umfragen der vergangenen Jahre zeigen ein außergewöhnliches Sympathieverhältnis zwischen Tschechen und Slowaken. Es gibt gemeinsame TV-Shows und Sportveranstaltungen und eine tschechoslowakische Nostalgiewelle vor allem in der Slowakei. Warum gibt es trotzdem keine ernsten politischen Bestrebungen für eine Wiedervereinigung?

Das ist eine passive Nostalgie, die keine Aktivitäten setzt. Wir können sie mit Erinnerungen an unsere Jugend vergleichen, von der wir wissen, dass sie schön gewesen ist, aber unwiederbringlich vorbei ist. Vor allem aber beweisen Nostalgie und gegenseitige Sympathien, dass die Trennung mustergültig gelungen ist: Die Tschechen müssen nicht mehr die Slowaken durch Transferzahlungen unterstützen, und die ärmere Slowakei hatte nach der Trennung ein viel höheres Wirtschaftswachstum als die Tschechische Republik, sodass sich heute beide Seiten als Gewinner fühlen können.

Tschechoslowakei (*1918, †1992)

28. Oktober 1918: Die Unabhängigkeit von Österreich-Ungarn wird in Prag proklamiert. Die Verfassung der Republik (nach französischem Vorbild) tritt 1920 in Kraft.

30. September 1938: Truppen der Wehrmacht besetzen das Sudetenland. Am 15. März 1939 wird die sogenannte Rest-Tschechei okkupiert und zum Protektorat des Dritten Reichs. Aus der Restslowakei wird ein Vasallenstaat der Nazis.

Februar 1948: Die Kommunisten übernehmen durch einen Staatsstreich die Alleinherrschaft.

21. August 1968: Truppen des Warschauer Pakts beenden gewaltsam den Prager Frühling.

November 1989: Die „Samtene Revolution“ läutet das Ende der KP-Herrschaft ein, die ersten freien Wahlen seit 1945 finden im Juni 1990 statt.

19. Juni 1992: Tschechen und Slowaken einigen sich auf die Aufspaltung der Tschechoslowakei in zwei unabhängige Staaten.

31. Dezember 1992: Die Föderation löst sich friedlich auf, am 1. Jänner 1993 werden Tschechien und die Slowakei offiziell gegründet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.01.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Leitartikel

Warum eine erfolgreiche Trennung kein Vorbild ist

Wer das Ende der Tschechoslowakei als Blaupause für eine mögliche Aufspaltung der EU sehen möchte, irrt. Ein „Grexit“ wäre viel traumatischer.
Außenpolitik

Sezession: Wenn Staaten zerfallen

Nicht immer geht eine Trennung so friedlich vor sich wie im Fall der Tschechoslowakei. Dies zeigten vor allem die Jugoslawien-Kriege.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.