Tschechien: Die unbewältigte Last der Vertreibung

(c) EPA (Michal Kamaryt)
  • Drucken

Der Streit um die Beneš-Dekrete und die Nachkriegsvertreibung könnte die Präsidentschaftswahl in Tschechien entscheiden. Bisherige Versuche haben nicht ausgereicht, dieses Stück Geschichte zu bewältigen.

Prag/Wien. Petr Fischer, renommierter Prager Kommentator, rieb sich in seinem Resümee des tschechischen Wahlkampfs verwundert die Augen: „Sind wir wirklich sicher, dass die ersten direkten tschechischen Präsidentschaftswahlen im Jahre 2013 stattfinden und nicht 75 Jahre früher?“ Der Mann von der wirtschaftsliberalen „Hospodarske noviny“ ist nicht allein mit seinen Zweifeln.

Statt Visionen über Zukunftsthemen zu debattieren, gerieten sich die beiden Kandidaten, der frühere linke Regierungschef Miloš Zeman und der konservative Außenminister Karel Schwarzenberg, in jedem Radio- oder TV-Duell über die Geschichte in die Haare. Der Streit über die Beneš-Dekrete und die Nachkriegsvertreibung drohte sogar die Wahlen zu entscheiden. Ausgangspunkt des Konflikts war die Äußerung von Schwarzenberg, der sagte, die Vertreibung sei aus heutiger Sicht eine grobe Verletzung der Menschenrechte gewesen. Die damalige Regierung und Präsident Edvard Beneš würden dafür heute vor das Internationale Tribunal in Den Haag zitiert. Es war ein Tabubruch, wie ihn bisher noch kein tschechischer Politiker begangen hatte.

Die Vertreibung von drei Millionen Deutschen und Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg, die zahllosen Morde, Gewaltakte und die Amnestie für sämtliche damit verbundenen Verbrechen bleiben Themen, die Tschechiens Gesellschaft spalten. Bemühungen von Historikern um eine objektive Aufarbeitung, die Eröffnung eines Museums zur Vertreibung in Ústí nad Labem (Aussig) und auch die Entschuldigung des damaligen Präsidenten Václav Havel 1997 für die Verbrechen an den Sudetendeutschen haben zwar jeweils öffentliche Debatten ausgelöst – die Emotionen sind jedoch geblieben.

Barbara Coudenhove-Kalergi, die selbst als 13-Jährige aus Prag vertrieben worden ist, zeigt im Gespräch mit der „Presse“ Verständnis für die lange Dauer der Aufarbeitung. Denn den Tschechen sei über 40 Jahre der Eindruck vermittelt worden, sie „seien die Guten in dieser Geschichte, die Deutschen die Bösen“. Auch in Österreich habe die Aufarbeitung dieser Zeit erst eine Generation später eingesetzt.

So ist es nicht verwunderlich, dass die sudetendeutsche Frage heute in Tschechien Alt und Jung spaltet. Vor allem für die jungen Tschechen, die Schwarzenberg massiv unterstützen, sind die Beneš-Dekrete überhaupt kein Thema von Belang mehr, oder sie sehen es ähnlich wie der Außenminister. In der tschechischen öffentlichen Meinung nimmt die Zahl derjenigen ab, die die Nachkriegsvertreibung heute noch als gerechtfertigt ansehen. Im vergangenen Jahr lag sie erstmals unter 50 Prozent. Dennoch gibt es immer wieder Versuche einzelner Politiker, den nationalistischen Ungeist aus der Flasche zu holen, um bei Wahlen zu punkten. Miloš Zeman hat 2002 als Premierminister in einem „Profil“-Interview behauptet, die Vertreibung sei ja „milder als die Todesstrafe“ wegen Landesverrats gewesen. Und auch diesmal spielte er mit alten Ressentiments, nannte Schwarzenberg einen „Sudetjaken“ und sprach ihm gar das moralische Recht ab, Präsident zu werden.

Auch der noch amtierende Präsident Václav Klaus, der sich nun klar gegen Schwarzenberg stellte, hatte mehrfach das Vehikel der Beneš-Dekrete benutzt, um beispielsweise Stimmung gegen die EU zu machen. Dem Lissabon-Vertrag stimmte er nicht nur als letzter europäischer Staatschef zu, sondern auch nur, nachdem ihm eine Zusatzklausel bewilligt wurde. Sie soll verhindern, dass die Vertriebenen über den Hintereingang Europa Forderungen nach Rückgabe ihres unrechtmäßig konfiszierten Eigentums stellen könnten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.