Ungarn: Viktor Orbán hebelt das Verfassungsgericht aus

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Mit ihrer Zweidrittelmehrheit peitschte die Regierung umstrittene Gesetze durch, die zuvor vom Höchstgericht beanstandet worden waren.

Budapest. Stößt Ungarns nationalkonservativer Regierungschef Viktor Orbán auf Widerstand, reagiert er zumeist wenig zimperlich. Nicht selten greift er zur Brechstange. Auch die gestern, Montag, von der Regierungsmehrheit durchgepeitschten Verfassungsänderungen sind wohl in die Kategorie „Brechstange“ zu reihen.

Zum Hergang: Im Dezember des Vorjahres hat das ungarische Verfassungsgericht mehrere Gesetze der Regierung wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben. Und wie hat die Regierung jetzt darauf reagiert? Sie hat die „verfassungswidrigen“ Gesetze dank ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament kurzerhand in der Verfassung verankert. Befindet sich eine Regelung in Verfassungsrang, ist sie sozusagen in Stein gemeißelt. Auch das Verfassungsgericht kann dann nichts mehr dagegen ausrichten. Aufgrund der gestrigen Verfassungsänderungen wird es künftig möglich sein, Wahl- und Parteiwerbung in den kommerziellen Medien Ungarns einzuschränken. Das wird vor allem als Schlag ins Gesicht der Opposition gewertet. Denn: Die öffentlich-rechtlichen Medien werden ausnahmslos von der Regierung kontrolliert.

Studenten und Obdachlose im Visier

Im Grundgesetz verankert wurde auch eine Möglichkeit zur Einschränkung der Meinungsfreiheit. Dazu wird die Regierung fortan berechtigt sein, wenn die „Würde der ungarischen Nation“ verletzt wird. Während das Regierungslager in dieser Regelung ein Instrument gegen die Hassrede sieht, wittert die Opposition einen Abbau demokratischer Grundrechte dahinter.

Äußerst umstritten sind darüber hinaus zwei weitere Regelungen, die in der Verfassung verankert wurden. Zum einen werden ungarische Studenten, deren Studium vom Staat finanziert wird, von nun an dazu verpflichtet sein, nach dem Ende ihres Studiums die doppelte Dauer ihrer Studienzeit in Ungarn zu arbeiten. Sonst müssen sie Gebühren nachzahlen. Ein Teil der ungarischen Studentenschaft ist in den vergangenen Wochen gegen diese Bestimmung Sturm gelaufen. Die Studierenden argumentieren, dass das EU-weit geltende Prinzip der Arbeitnehmerfreizügigkeit verletzt werde.

Zum anderen gibt das Grundgesetz den ungarischen Städten und den Budapester Bezirksverwaltungen künftig die Möglichkeit, Obdachlose, die auf der Straße leben, zu kriminalisieren. Die Regierung verfolgt damit das Ziel, sämtliche Obdachlose in Ungarn in Obdachlosenheimen unterzubringen, wo sie „würdigere Lebensumstände“ hätten. Obdachlosen-Hilfsorganisationen halten dem jedoch entgegen, dass es in den ungarischen Heimen bei Weitem nicht genug Plätze gäbe.

Tirade gegen Profitgier

Die Regierung hat sich im Rahmen der gestrigen Verfassungsänderungen überdies auch rechtlich dagegen gefeit, unliebsame Einmischungen des Verfassungsgerichts hinnehmen zu müssen. So wird das Verfassungsgericht Änderungen des Grundgesetzes nur noch auf ihre formale, nicht aber auf ihre inhaltliche Rechtmäßigkeit überprüfen dürfen. Die Höchstrichter werden sich in Zukunft auch nicht mehr auf Entscheidungen berufen können, die das Verfassungsgericht vor Inkrafttreten der neuen Verfassung im Jänner 2012 getroffen hat. Grundlage für die Rechtsprechung des höchsten Gerichts soll nur noch das neue Grundgesetz sein.

Bei der gestrigen Parlamentsdebatte, die der Abstimmung über die Verfassungsänderungen vorangegangen war, verlor Ministerpräsident Orbán kein einziges Wort über das Grundgesetz. Stattdessen redete er von der Notwendigkeit, die Energiekosten der ungarischen Haushalte zu senken und der Profitgier der ausländischen Energieversorger Einhalt zu gebieten, was wohl ein Ablenkungsmanöver war.

Das brachte den Abgeordneten der oppositionellen Sozialisten (MSZP), József Tóbiás, dermaßen auf, dass er wutentbrannt die Sitzung verließ. Tóbiás war bis dahin der einzige anwesende MSZP-Politiker im Plenarsaal, die Fraktion der größten Oppositionspartei hatte sich aus Protest schon im Vorfeld dazu entschieden, der gestrigen Parlamentssitzung fernzubleiben.

Orbán und seine Regierung ließen sich selbst von internationaler Kritik nicht darin beirren, die Verfassungsänderungen zu verabschieden. In einem Brief an Orbán hatte EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso in der Vorwoche seine Besorgnis über die Änderung des ungarischen Grundgesetzes ausgedrückt. Der Generalsekretär des Europarates, Thorbjorn Jagland, wiederum rief die ungarische Regierung dazu auf, die Verabschiedung der Verfassungsänderungen hinauszuschieben. In Ungarn hatten am Wochenende und in den Tagen zuvor tausende Menschen gegen die Verfassungsänderungen demonstriert. Am Donnerstag vergangener Woche war sogar die Parteizentrale der Regierungspartei Fidesz von Demonstranten kurzzeitig besetzt worden.

Dis umstrittene Verfassungsänderung

Die Novelle beinhaltet unter anderen folgende Bestimmungen: - Einschränkung der Befugnisse des Verfassungsgerichts. Die Höchstrichter dürfen Verfassungsänderungen und -zusätze künftig nur noch verfahrensrechtlich, nicht mehr inhaltlich prüfen. Darüber hinaus ist es ihnen verwehrt, sich auf die eigene Spruchpraxis aus der Zeit vor Inkrafttreten der derzeitigen Verfassung im Jänner 2012 zu berufen. - Vollmacht für die vom Ministerpräsidenten ernannte Leiterin des Nationalen Justizamtes, bestimmte Fälle bestimmten Gerichten zuzuweisen. - Möglichkeit, Wahlwerbung in privaten Medien zu verbieten. - Kriminalisierbarkeit von Obdachlosen. Sie können ins Gefängnis kommen, wenn sie auf der Straße übernachten. - Möglichkeit, dass die Regierungsmehrheit im Parlament willkürlich über die Zuerkennung den Status religiöser Gemeinschaften als Kirchen entscheidet. - Einengung des von der Verfassung gewährten Schutzes der Familie auf Mann und Frau, die miteinander verheiratet sind und Kinder großziehen. - Aufhebung der Finanzautonomie der Universitäten durch von der Regierung eingesetzte Wirtschaftsdirektoren ("Kanzler"). - Möglichkeit, Universitätsabgänger, die ohne Studiengebühren studiert haben, auf das Bleiben in Ungarn zu verpflichten.Demonstranten vor Parlament

Mehrere hundert Demonstranten haben am späten Montagabend versucht, zum Budapester Parlament vorzudringen, um gegen die Verabschiedung der Verfassungsmodifizierung zu protestieren. Dabei kam es zu Handgreiflichkeiten mit der Polizei, berichtet die Nachrichtenagentur M T I. Nach Eintreffen der Verstärkung bildeten 150 bis 200 Polizisten eine doppelte Verteidigungslinie um das Parlament auf dem Kossuth-Platz. Die Masse beschimpfte Premier Viktor Orban und rief "Diktator - Viktor" und "Wir lassen es nicht zu".

Die Polizei hatte inzwischen die Kettenbrücke gesperrt, über die Demonstranten in Richtung Parlament strömten. Die aufgebrachten Bürger hatten zuvor an einer Protestaktion auf dem Budaer Burgberg vor dem Sitz des Staatspräsidenten Janos Ader teilgenommen. Hier forderten sie Ader auf, die verabschiedete Verfassungsänderung nicht zu unterzeichnen, da diese die Demokratie in Ungarn massiv abbauen würden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.03.2013)

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