Fluch der Freiheit: Der Irak zehn Jahre nach Saddam

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Zehn Jahre nach Beginn der US-Invasion leiden die Iraker unter einer desolaten Infrastruktur und Machtkämpfen. Das Land ist viel sicherer geworden, doch neue Attentate wecken Angst vor einem Rückfall ins Chaos.

Das Feuer der Explosionen hat seine pechschwarzen Spuren in die Außenmauer gebrannt. Auch im Inneren des mächtigen Gebäudes haben Flammen gewütet. Die verkohlte Fensterfront im zweiten und dritten Stock ist schon aus einiger Entfernung zu erkennen. Viel näher als zweihundert Meter kommt man an diesem Tag an das Justizministerium im Herzen der irakischen Hauptstadt nicht heran. „Nur mit Sondergenehmigung“, sagt einer der Soldaten, die an der Zufahrtstraße zum Ministerium in Stellung gegangen sind. Die Männer tragen Helme und schwere Splitterschutzwesten. Kameraden auf einem Pick-up und einem Schützenpanzer sichern sie mit aufgepflanzten Maschinengewehren.

Nur wenige Tage zuvor hat hier ein Terrorkommando zugeschlagen. Die Angreifer zündeten Bomben und drangen ins Justizministerium ein. Drinnen legten sie Feuer, einer ihrer Kämpfer sprengte sich in die Luft. Die der al-Qaida nahestehende Gruppe „Islamischer Staat im Irak“ hat die Verantwortung für das Attentat übernommen. Doch Berichte, die Angreifer hätten wichtige Akten in Strafsachen mitgenommen, heizen in Bagdad die Gerüchteküche an. Nicht wenige Iraker vermuten ohnehin: Hinter vielen der Attentate und Entführungen steckten in Wahrheit einflussreiche Interessengruppen und etablierte politische Parteien, die so ihre Machtkämpfe austragen.

Zehn Jahre nach dem Beginn des US-Feldzuges gegen Diktator Saddam Hussein hat der Irak noch immer nicht zu Stabilität gefunden. Gewalt ist nach wie vor ein Mittel der Politik – doch sie ist in den vergangenen Jahren deutlich weniger geworden. Eine Fahrt durch die Hauptstadt gleicht nicht mehr einem Spießrutenlauf zwischen Autobomben, Heckenschützen und bewaffneten Banditen.

Das hat zuletzt in Bagdad neue Hoffnungen auf eine sicherere Zukunft aufkeimen lassen. Hoffnung darauf, endlich aus dem Albtraum aufzuwachen, durch den das Land in den Jahren nach dem Sturz des Saddam-Regimes getaumelt war: einem Albtraum aus Chaos, Terroranschlägen, brutalen Übergriffen der US-Truppen und Bürgerkrieg zwischen schiitischen und sunnitischen Milizen.

Sunniten protestieren

Die Straßen Bagdads sind voller Leben, man fährt zum Picknick, isst im Restaurant – sofern man sich das leisten kann. Ausländische Firmen wagen sich wieder vermehrt ins Land. Doch in den vergangenen Wochen legten sich dunkle Schatten über die ersten zaghaften Erwartungen eines künftigen, friedlichen Idylls.

„Die Menschen hier spüren jetzt wieder einen Hauch von Terror und Bürgerkrieg“, sagt der 34-jährige irakische Journalist und nippt an seinem Tee. „Schreib einfach, dass ich Mohammed heiße“, meint er. Seinen richtigen Namen will er nicht in der Zeitung stehen haben – immerhin hat er eine Zeit lang für die Amerikaner als Übersetzer gearbeitet. Seit in sunnitischen Provinzen wie Anbar tausende Menschen gegen die Regierung auf die Straße gehen, sind die Fliehkräfte im Irak wieder größer geworden. Extremistengruppen wie al-Qaida haben sich verstärkt mit Attentaten zurückgemeldet. Und alte Ideen von einer Aufteilung des Landes in einen schiitischen, einen sunnitischen und einen kurdischen Teil werden wieder ventiliert.

Die Kurden im Norden verfügen ohnehin bereits über ihre eigene autonome Region, in der ökonomischer Aufschwung und weitaus größere Sicherheit als im Rest des Irak herrschen. Sie haben besonders unter Saddam gelitten. Erst vor einigen Tagen gedachten sie in einer großen Feierlichkeit des 25. Jahrestages des mörderischen Giftgasangriffes auf die kurdische Stadt Halabja durch Iraks Regimetruppen. Die Kurden haben vom Sturz des brutalen Diktators am meisten profitiert.

Doch auch die Schiiten haben gewonnen. Sie stellen die Bevölkerungsmehrheit im Irak, fühlten sich aber von der Herrschaft des Sunniten Saddam Hussein unterdrückt. Ein Schiiten-Aufstand im Südirak 1991 wurde brutal niedergeschlagen. Heute dominieren die Schiiten unter Premier Nouri al-Maliki die irakische Regierung – zum Unmut der sunnitischen Gruppen, die nun ihre Anhänger auf die Straßen schicken.

Prestigeobjekt Handynummer

Der Journalist Mohammed ärgert sich darüber, dass die Proteste gegen die Regierung erneut auf die Geleise des Konflikts Sunniten gegen Schiiten umgeleitet wurden. „Alle haben genügend Grund für Ärger über die Führung und die politischen Parteien. Das sollte nicht davon abhängen, welcher Richtung des Islam man angehört. Vor dem Bürgerkrieg hier hat diese Frage ohnehin kaum eine Rolle gespielt.“

Gründe für Kritik gibt es tatsächlich zuhauf: Premier Maliki agiert immer autoritärer. Organisationen wie Amnesty International beklagen schwere Menschenrechtsverletzungen. Die Infrastruktur liegt nach wie vor im Argen. Es gibt zu wenige Jobs. In der Verwaltung blühen Korruption und Vetternwirtschaft. Und viele, die ein neues Amt einheimsen, kümmern sich vor allem darum, wie sie persönlich davon profitieren können – und eine der begehrte VIP-Handy-Nummern bekommen: je mehr gleiche Ziffern in der Nummer desto mehr Prestige.

Freude über Saddams Sturz

Über Leute, die sich nach der „guten alten Zeit“ unter Saddam Husseins Baath-Regime zurücksehnen, kann sich Mohammed trotzdem nur wundern. „Damals wären Proteste gegen die Regierung wie jetzt in Anbar nach spätestens einer Stunde im Blut erstickt worden. Natürlich waren wir froh, als Saddam endlich weg war.“

Nach dem Einmarsch der US-Truppen 2003 hegten durchaus viele Iraker große Hoffnungen, erzählt der Journalist. Doch die Amerikaner enttäuschten. „Nach dem Sturz des Regimes brach Chaos aus. Die Amerikaner waren nicht imstande, für Sicherheit in den Straßen zu sorgen. Und sie haben viele Fehler gemacht.“

Einige diese „Fehler“ erlebte Mohammed selbst mit, als er als Übersetzer einer US-Luftlandeeinheit in Anbar unterwegs war. Er begleitete die US-Soldaten in ein Dorf, um Kontakt mit den lokalen Führern aufzunehmen. Plötzlich stoppten einige GIs ein entgegenkommendes Fahrzeug, das ihnen verdächtig vorkam. „Drinnen saßen nur ein Mann mit seiner Frau und seinen kleinen Kindern. Er hatte nichts getan“, erinnert sich Mohammed. Die US-Soldaten sahen das anders. Sie zwangen den Mann, auszusteigen und sich flach auf den Boden zu legen. Ein bulliger Sergeant „fixierte“ den Iraker, indem er ihm mit seinem Feldschuh auf den Kopf stieg. „Ich bat ihn: Hör auf damit, wir werden hier große Probleme bekommen“, erzählt Mohammed. Doch den Sergeant kümmerte das wenig. Er blieb noch 20 Minuten auf dem Kopf des Irakers stehen. Dann ließen sie die Familie weiterfahren.

Mohammed erlebte mit der US-Einheit noch andere Dinge: Soldaten, die sich laut über betende Dorfbewohner lustig machten, oder einen GI, der aus Langeweile in Richtung eines Bauern schoss, der mehrere hundert Meter entfernt auf einem Feld arbeitete.

Und die Probleme für die USA kamen. Schon bald starteten die sunnitischen Stämme in Anbar einen Aufstand. Ehemalige Saddam-Anhänger mischten im Untergrundkrieg mit. Und schließlich traten auch al-Qaida und andere Extremistengruppen auf den Plan.

Die US-Truppen schlugen hart zurück: mit Hausdurchsuchungen, Massenverhaftungen, dem Quälen von Gefangenen. Die „Unfälle“, bei denen nervöse GIs unschuldige Zivilisten töteten, nahmen zu. Viele, die die Amerikaner einst als Befreier erlebt hatten, sahen in ihnen bald Besatzer. Ende 2011 beendeten die USA ihre Militärmission im Irak. Heute sind noch einige tausend Soldaten im Land, vor allem, um den gewaltigen US-Botschaftskomplex in Bagdad zu schützen.

„Sieg oder Märtyrertum“

Dia al-Hassani lächelt. Es ist ein zufriedenes Lächeln, das sich über sein mit großen Brandnarben übersätes Gesicht zieht. „Wir sind glücklich, dass die Amerikaner weg sind“, sagt der breitschultrige Mann und rückt seine Camouflage-Schildkappe zurecht. „Wir haben so viele Jahre gegen sie gekämpft, und sie haben verloren.“

Dia al-Hassani gehört zur Mahdi-Armee des schiitischen Predigers Moqtada as-Sadr. Die berüchtigte Miliz stand einst ganz oben auf der Feindesliste der Amerikaner. As-Sadr kontrolliert seit Saddams Sturz das verarmte Schiitenviertel Sadr City im Nordosten Bagdads. Mit den Amerikanern verband ihn eine hitzige Feindschaft.

„Es passierte 2005, als wir in Nadjaf kämpften“, sagt Dia al-Hassani und deutet auf die Spuren, die diese Feindschaft in seinem vernarbten Gesicht hinterlassen hat. Der Milizionär und andere Kämpfer hatten sich in ausgehobenen Gräbern auf dem Friedhof verschanzt. Ein US-Kampfhubschrauber feuerte eine Rakete auf ihre Position ab. „Die Mahdi-Armee ist eine friedliche Armee“, beteuert Dia al-Hassani. Doch er fügt hinzu: „Wenn wir kämpfen müssen, gibt es nur Sieg oder Märtyrertum.“

Derzeit halten Moqtada as-Sadr und seine Milizionäre weitgehend still. Der Schiitenprediger versucht, bei den Provinzwahlen im April an den Wahlurnen zu punkten. Wie friedlich die Abstimmung verläuft, wird ein erster Test dafür sein, ob der Irak zehn Jahre nach der US-Invasion in Richtung Frieden und Normalität schreitet. Oder ob das Gespenst von Bürgerkrieg und Terror zurückkehrt.

Irak-Krieg in Zahlen

1,7 Billionen Dollar sollen die bisherigen volkswirtschaftlichen Gesamtkosten des Irak-Krieges laut einer Studie von 30 US-Experten im Rahmen des Watson Institutes betragen. Dazu müsse man noch 500 Milliarden Dollar an künftigen Zahlungen an Veteranen rechnen, samt Zinsen könnten die Folgekosten binnen der nächsten 40 Jahre sogar auf mehr als sechs Billionen Dollar wachsen.

810 Milliarden Dollar sollen die bisher im Irak-Einsatz angelaufenen unmittelbaren Militärausgaben der USA betragen.

2,5 Millionen Iraker und mehr sind seither ins Ausland geflohen.

180.000 Menschen starben laut mehreren Studien insgesamt im Zuge der Invasion, vor allem aber im nachfolgenden Aufstand und Bürgerkrieg. 116.000 bis 134.000 davon sollen irakische Zivilisten gewesen sein, der Rest irakische und ausländische Soldaten bzw. Polizisten, Milizionäre und Terroristen.

4804 ausländische Soldaten fielen bis zum endgültigen Abzug der letzten US-Kampftruppen im Dezember 2011, davon 4486 US-Amerikaner, 179 Briten, 33 Italiener, 23 Polen, 18 Ukrainer, 13 Bulgaren und elf Spanier.

3200 Jahre alt sind die antiken Stätten von Nimrud, die von campierenden US-Soldaten verwüstet wurden.

77 Prozent der Iraker sagten laut Umfragen gegen Ende der Besatzungszeit, dass der Sturz Saddam Husseins richtig gewesen sei.

15 Prozent der Selbstmordattentäter im Irak waren seit 2003 selbst Iraker, hingegen stammten 40 Prozent aus Saudiarabien, der Rest aus vielen anderen Staaten, etwa aus Syrien, Jordanien, Libyen, der Türkei und sogar aus Kuwait.

0 Massenvernichtungswaffen, der vorgebliche Hauptgrund der Invasion des Iraks, wurden gefunden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2013)

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