Ausnahmezustand: Boston-Bomber hält USA in Atem

Police officers take position during a search for the Boston Marathon bombing suspects in Watertown
Police officers take position during a search for the Boston Marathon bombing suspects in WatertownREUTERS
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Nach einem Feuergefecht mit Polizei und FBI ist ein mutmaßlicher Attentäter tot, ein weiterer ist auf der Flucht, und die Metropole Boston ist lahmgelegt.

Boston. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag eskalierte die Jagd nach den Bostoner Bombenlegern, die am Montag beim Marathonlauf drei Menschen getötet und 176 weitere schwer verletzt hatten. Nachdem sie auf dem Campus des Massachusetts Institute of Technology (MIT) einen Wachmann erschossen hatten, stahlen zwei 19 und 26 Jahre alte Brüder ein Auto, überfielen einen 7-Eleven-Supermarkt und lieferten sich ein schweres Feuergefecht mit Polizei und FBI-Beamten. Der ältere starb dabei, der jüngere ist auf der Flucht.

Drei Tage lang untersuchten die Ermittler Videoaufnahmen, Handyfotos und die Reste der beiden Sprengsätze. Am Donnerstag um 17 Uhr schließlich veröffentlichte das FBI Kamerabilder zweier Männer, die sich unmittelbar vor den Explosionen am Tatort aufgehalten und zwei Rucksäcke dort abgestellt hatten.

Dass dies die Attentäter sind, war spätestens in dem Moment so gut wie klar, als Jeff Bauman Folgendes zu Protokoll gab: „Er war es. Er stand direkt neben mir und schaute mir in die Augen.“ Bauman ist jener junge Mann, der bei dem Anschlag beide Unterschenkel verloren hat; das Bild, wie er in einem Rollstuhl mit aschfahlem Gesicht abtransportiert wurde, ging um die Welt.

Die Bilder der beiden mutmaßlichen Attentäter waren daraufhin sofort überall in Amerika zu sehen: auf Fernsehschirmen, Weblogs, auf Facebook und Twitter. Das dürfte zu viel für die Nerven von Dzohar Tsarnaev (19) und seinem Bruder Tamerlan gewesen sein. Die beiden Männer, die laut Informationen von CNN bereits vor Jahren mit kirgisischen Reisepässen US-Aufenthaltsbewilligungen beantragt und erhalten hatten, liefen Amok. Entgegen ersten Meldungen starb Tamerlan nicht im Kugelhagel der Polizei, vielmehr überfuhr ihn sein Bruder, als er mit dem gestohlenen Auto ausbrach und floh.

„Hier ist alles dicht“

Die Behörden reagierten in bisher beispielloser Weise. Alle Bewohner von Boston sowie den Vorstädten Cambridge, Watertown, Newton, Brookline, Belmont Waltham und Allston-Brighton wurden dazu aufgefordert, ihre Häuser nicht zu verlassen und die Türen nur für klar als solche erkennbare Polizeibeamte zu öffnen. Wer auf der Straße sei, solle die Hände aus den Hosentaschen nehmen. Diese Sperre betrifft mehr als eine Million Menschen in einer der wichtigsten Metropolen der Vereinigten Staaten.

Cathryn Clüver lebt rund eine Viertelstunde Fußweg vom mutmaßlichen letzten Wohnort der Tsarnaev-Brüder in Cambridge entfernt. „Das ist keine problematische Gegend von Cambridge. Viele Harvard-Studenten leben dort“, sagt die Direktorin des „Future of Diplomacy“-Projekts an der Kennedy School of Government von Harvard im Telefongespräch mit der „Presse“.

Die 108.000-Einwohner-Stadt Cambridge am jenseitigen Ufer des Charles-River gegenüber von Boston sei von der Polizei und dem FBI komplett gesperrt. „Hier ist alles dicht“, sagt Clüver. „Die Autos sind alle auf den Straßen geparkt, aber nichts und niemand bewegt sich. Alle 20 Minuten hört man Sirenengeheul.“

Die Motive der beiden Attentäter sind unbekannt. Erste Berichte, wonach sie tschetschenische Terroristen mit Kampferfahrung seien, waren falsch. Der jüngere Bruder kam vor rund zehn Jahren in die USA, hat also den Großteil seines Lebens im Westen verbracht. Die Familie ist nordkaukasischer Herkunft, sie hat auch in Kasachstan und Dagestan gelebt. Dzohar war ein sehr guter Schüler, nach seiner Matura an der Rindge& Latin High School im Mai 2011 erhielt er ein Leistungsstipendium über 2500 Dollar. Eine Schule, die übrigens auch die Oscar-Preisträger Ben Affleck und Matt Damon besucht haben. „Das ist eine große, diverse, extrem anerkannte Schule mitten in Cambridge“, sagt Clüver. Ehemalige Schulkollegen beschreiben ihn als nett und stets für eine Party zu haben. Die Schule ernannte ihn auch einmal zum Sportler des Monats.

Im Internet für den Jihad rekrutiert?

Bis vor einem Jahr versah er Dienst als Bademeister in einem Schwimmbad von Harvard. Zuletzt war er als Medizinstudent an der University of Massachusetts, Dartmouth, eingetragen; das ist rund 100 Kilometer im Süden von Boston. Auch dieser Campus wurde von den Behörden abgeriegelt.

Auf seinem Profil in der russischen Internetplattform VKontakte (einer Art Facebook) gab Dzohar den Islam als seine Religion an – seine Interessen hingegen seien „Geld und Karriere“.

Die Ermittler mutmaßen, dass er möglicherweise unter dem Einfluss seines älteren, weniger gut integrierten Bruders Tamerlan über das Internet von islamistischen Terroristen rekrutiert worden sein könnte. Sein Bruder sammelte jedenfalls jihadistische Videos auf einem YouTube-Kanal.

Vorzugsschueler Bademeister Moerder
Vorzugsschueler Bademeister Moerder

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2013)

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