Die Boston-Bomber: Protokoll einer Brutalisierung

Tsarnaevs Protokoll einer Brutalisierung
Tsarnaevs Protokoll einer Brutalisierung(c) REUTERS (ALEXANDER DEMIANCHUK)
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Die beiden mutmaßlichen Attentäter hätten kaum unterschiedlicher sein können: Der eine war smart und in Amerikas Massenkultur daheim, der andere war haltlos und ließ die Fäuste sprechen. Persönliche Niederlagen schweißten Dzohar und Tamerlan Tsarnaev zu einem mörderischen Duo zusammen.

Ein Tschetschene, ein Dagestaner und ein Ingusche fahren mit dem Auto. Wer sitzt am Steuer? Antwort: ein Polizist.
Diesen Witz fand Dzohar Tsarnaev so lustig, dass er ihn prominent auf seinem Profil bei VKontakte platzierte, der russischen Kopie von Facebook. Seine Weltsicht sei der Islam, seine persönlichen Prioritäten allerdings „Karriere und Geld“. Und wer in den Untiefen des digitalen Raums wühlt, der findet nach einigem Suchen auch den Twitter-Account des 19-jährigen Bostoner Marathonbombers, der sich nach einer beispiellosen Großfahndung in der Nacht auf Samstag schwer verletzt in einem eingewinterten Motorboot kauernd den Sicherheitskräften ergeben hat (Zum Bericht).

Der Account @j_tsar ist echt – anders als einige andere von geschmacklosen Spaßvögeln rasch eingerichtete Fälschungen. Schulkollegen und Freunde von Tsarnaev (man spricht seinen Namen „Dschohar Zarnajew“ aus) haben das bestätigt. Wer sich durch die Kurzkommentare und Fotos klickt, die er hier hinterlassen hat, bekommt einen Einblick in das Seelenleben eines ziemlich gewöhnlichen amerikanischen Teenagers. Tsarnaev bediente sich einer lässig-schlampigen Schriftsprache, wie sie der Hip-Hop geprägt hat; er zitierte den Rapper 50 Cent („Now we ain't come here to start no drama, we just looking for our future baby mamas“, also: „Wir sind nicht gekommen, um Dramen anzufangen, sondern suchen nur die Mütter unserer künftigen Babys“) und nannte seine Freunde verschiedenartiger Herkunft nach Hip-Hopper-Manier „Nigga“. Er mochte protzige Autos und war ein Fan des Fußballklubs Anschi Machatschkala, der mit den Millionen des dagestanischen Oligarchen Suleiman Kerimov den holländischen Weltklassetrainer Guus Hiddink und eine Phalanx internationaler Stars wie Samuel Eto'o einkaufte.

Doch diese Chronologie seiner Selbstdarstellung auf Twitter nahm spätestens im Verlauf des vergangenen Jahres eine bedenkliche Wendung. Da hatte er gerade sein erstes Studienjahr an der University of Massachusetts, Dartmouth, hinter sich, und die Dinge liefen schlecht. Die „New York Times“ zitiert aus den Kursunterlagen seiner Professoren in den drei Semestern, die er dort studierte; Tsarnaev flog in etlichen Kursen durch, nur in „Kritisches Schreiben“ bekam er die Note B (also einen Zweier). Er begann dahinzudriften. „Ich bin der beste Bier-Pong-Spieler von Cambridge“, schrieb er im August 2012 über seine angebliche Meisterschaft bei einem unter amerikanischen College-Studenten beliebten Trinkspiel. Drei Monate später artikulierte er seinen Wunsch nach der „heiligen Dreifaltigkeit“: Hennessy-Whiskey, einer „miesen Schlampe“ und Marihuana.

Eine Familie zerfällt. Seltsame Sichtweisen eines jungen Mannes, der bis dahin als mustergültiger Schüler, Sportler und Kamerad galt. Tsarnaev erhielt ein Leistungsstipendium über 2500 Dollar, als er 2011 die High School abschloss. Er war ein guter Ringer. Klassenkollegen beschrieben ihn als lustig und nett. Auf einem Foto von der „Senior Prom Night“, dem amerikanischen Äquivalent des österreichischen Maturaballs, strahlt Tsarnaev stolz mit roter Fliege und schwarzem Smoking im Kreis seiner Freunde.

Doch der Umstieg von Schule auf Uni glückte ihm nicht. Zeitgleich passierten einige unerfreuliche Dinge in seiner Familie. Seine Mutter Zubeidat Tsarnaeva wurde im Sommer 2012 wegen Ladendiebstahls verhaftet. Sie war mit dem Rest der Familie Anfang der 2000er-Jahre in die USA eingewandert; zu Hause in der kirgisischen Kleinstadt Tokmok galten die Tsarnaevs unter anderen tschetschenischen Exilanten als Mitglieder der „Intelligentsia“. In den USA hingegen fand die gebildete Dame nur einen Job als Kosmetikerin. Und auch den verlor sie. Eine frühere Kundin erzählte der „Huffington Post“, dass Tsarnaeva ständig Verschwörungstheorien über die Anschläge vom 11. September 2001 spann. „Das war ein Inside-Job der Amerikaner“, vertraute sie ihrer entgeisterten Kundin zwischen Depilage und Gesichtsmassagen an. „Meine Söhne wissen alles darüber. Das steht alles im Internet.“

Vor allem der ältere ihrer beiden Söhne dürfte das Gebräu aus Verschwörungstheorien, islamistischen Kalenderblattweisheiten und dem Gefühl, in Amerika fremd zu sein, gierig aufgesogen haben. Der in der Nacht auf Freitag im Feuergefecht mit der Polizei getötete 26-jährige Tamerlan Tsarnaev war weniger smart als sein kleiner Bruder. Dafür war er ein robustes Mannsbild. Er boxte, sehr erfolgreich sogar, und hoffte darauf, sich für die US-Olympiamannschaft zu qualifizieren. Amerikanische Freunde allerdings fand er nicht. „Ich verstehe sie nicht“, sagte er im Jahr 2009 einem Fotojournalisten, der eine Bilddokumentation über ihn und andere Boxer machte. Zugleich beklagte er den moralischen Verfall. „Es gibt keine Werte mehr. Die Menschen können sich nicht mehr kontrollieren.“

Diesen Kontrollverlust kannte er selbst nur zu gut. Im selben Jahr wurde er kurz verhaftet, weil er seine damalige Lebensgefährtin geschlagen hatte. Ins Gefängnis musste er nicht. Die Hoffnung auf die amerikanische Staatsbürgerschaft war damit allerdings perdu.

Was dann mit ihm passiert ist, ist unklar. Sein ehemaliger Boxtrainer meinte, irgendwann seit Tamerlan nicht mehr gekommen. Und als er 2011 wieder auftauchte, sei der früher allseits beliebte Champ arrogant und rüde gewesen. Tamerlan zeigte mit einem Mal eine starkes Interesse am Islam. Anfang 2012 reiste er über New York aus den USA nach Russland aus. Erst ein halbes Jahr später kam er zurück. Sein Vater hatte die USA ebenfalls 2012 verlassen, um nach Dagestan zurückzukehren. In einem wirren Interview mit der „New York Times“ sagt der Vater, er sei mit Tamerlan nur einmal kurz in Tschetschenien bei Verwandten gewesen, sonst stets in Dagestan. Tamerlan habe so viel Zeit in Russland verbringen müssen, um seinen Reisepass erneuern zu lassen. „Ich spreche beide Sprachen. Vielleicht mache ich hier ein Business auf“, soll Tamerlan gesagt haben. Doch als er im Herbst in die USA zurückkehrte, stellte er auf YouTube einen Kanal mit Videos von Terroristen und islamistischen Hasspredigern zusammen. Schon 2011 hatte ihn das FBI auf Betreibe eines anderen Staates zur Vernehmung geladen. Offenbar war das Russland. Allerdings fanden die FBI-Agenten nichts Problematisches und ließen ihn gehen. „Wir haben keine Informationen über eine damalige Befassung mit ihm“, sagte eine Sprecherin des FBI auf Anfrage der „Presse am Sonntag“.

»Ich will hier raus.« Dzohar himmelte seinen großen, wenn auch nur vermeintlich starken Bruder an. Und die plötzliche Politisierung Tamerlans scheint im Schicksalsjahr 2012 auf ihn abgefärbt zu haben. „Schon ein Jahrzehnt in Amerika. Ich will raus“, twittert er am 14. März 2012. Dann, Mitte August: „Der Wert eines Menschenlebens ist heute einen Dreck wert.“ Einen Monat später erhielt Dzohar den amerikanischen Pass: am 11. September, dem Jahrestag der Attentate, die seiner Ansicht nach von der US-Regierung inszeniert waren. Diesen Tag kommentierte er nicht. Sechs Monate später, am 14. März 2013, witzelte er allerdings: „10. September, Baby. Ihr wisst, was morgen ist. Party bei mir!“

Genau einen Monat später zündeten er und sein Bruder die beiden Bomben. Was Dzohar danach kundtat, lässt bei der Nachlese den Atem stocken. Gleich nach der Explosion, die drei Menschen tötete und 176 verletzte: „Keine Liebe im Herzen der Stadt. Passt auf euch auf, Leute.“ Am Tag darauf: „Es gibt Leute, die die Wahrheit kennen, aber still bleiben. Und es gibt Leute, die die Wahrheit sagen, aber wir hören sie nicht, weil sie die Minderheit sind.“ Am Donnerstag tippt Dzohar Tsarnaev zum letzten Mal eine Botschaft in das 140-Zeichen-Feld von Twitter: „I'm a stress free kind of guy.“

„Ich bin ein stressfreier Kerl.“ Mit keiner Selbsteinschätzung hätte er falscher liegen können.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2013)

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