Die Bauherren von Istanbul

Bauherren Istanbul
Bauherren Istanbul(c) REUTERS (MURAD SEZER)
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Die Regierung der Türkei plant eine Reihe von Großprojekten – wie eine dritte Bosporus-Brücke. Doch viele der gigantischen Vorhaben sind umstritten.

Die Sonne strahlt, die Vögel zwitschern in den Maulbeerbäumen, und die Fischerboote schaukeln im Hafen. Die Welt scheint in Ordnung zu sein in Garipce, einem beschaulichen Fischerdorf am Bosporus im Norden der hektischen türkischen Metropole Istanbul. Aber die Idylle trügt, so die Hausfrau Elvan Aslan. „Zu dieser Jahreszeit müssten wir nachts eigentlich die Nachtigallen singen hören“, erzählt sie. „Aber wenn ich im Bett liege und lausche, höre ich nur Baulärm.“ Die Nachtigallen sind verschwunden.

Nur ein paar hundert Meter vom Dorf entfernt haben die Arbeiten an einem milliardenschweren Projekt begonnen, das Garipce für immer verändern wird: Vor wenigen Tagen legten Staatspräsident Abdullah Gül und Premier Recep Tayyip Erdoğan in einer Bucht in der Nähe des Dorfes den Grundstein für eine neue Autobahnbrücke über den Bosporus. In zwei Jahren soll die Hängebrücke fertig sein – umstritten ist sie allerdings schon jetzt.

Zwei Brücken über die Meerenge, die Asien und Europa trennt, hat Istanbul bereits: Die Bosporus-Brücke aus dem Jahr 1973 und die 1988 gebaute Fatih-Sultan-Mehmet-Brücke. Nun soll die Yavuz-Sultan-Selim-Brücke hinzukommen, als Teil eines neuen Autobahnrings von 414 Kilometern Länge, der eine neue Umfahrung der 15-Millionen-Stadt Istanbul darstellt und die chronisch verstopften Straßen der Metropole entlasten soll.

Doch die Leute in Garipce sind alles andere als begeistert. Sie berichten vom Lärm der Sprengungen, mit dem die Bosporus-Hügel auf beiden Seiten der Meerenge für die Brücke geglättet werden. Überall würden Bäume gefällt, sagt der Arbeiter Levent. Die Hausfrau Elvan Aslan sorgt sich, dass das Bauverbot für Wohnhäuser in der dicht bewaldeten Gegend nach Fertigstellung der Brücke aufgehoben wird, um neue Wohnsiedlungen mit günstiger Verkehrsanbindung zu ermöglichen.


„Symbol des Erfolgs“.
Für die türkische Regierung ist die Selim-Brücke aber vor allem Symbol der Tatkraft, des Erfolgs und des Fleißes. „Wir sind eine große Nation“, sagte Erdoğan bei der Grundsteinlegung. „Freund und Feind können sehen, wie strahlend die Zukunft der Türkei sein wird“, schwärmte Präsident Gül. Die neue Brücke, ein neuer Großflughafen und eine Reihe anderer Bauvorhaben symbolisieren für ihn und Erdoğan den Wiederaufstieg der Türkei, der sich in einem Wirtschaftsboom niederschlägt.

Erdoğan verspricht außerdem, dass die 2,5 Milliarden Dollar teure und knapp 1,3 Kilometer lange Brücke den staugeplagten Pendlern in Istanbul ein Ende des täglichen Frusts bringen wird: Derzeit kann die Fahrt von der Wohnung im asiatischen Teil der Riesenstadt zur Arbeit in Europa oder andersherum mehrere Stunden dauern. Sage und schreibe 140 Millionen Fahrzeuge überqueren die beiden bestehenden Brücken jedes Jahr. Inzwischen seien die Brücken beim Zweieinhalbfachen ihrer eigentlichen Kapazität angelangt, sagt Erdoğan.

Der rasante Wirtschaftsaufschwung der Türkei und das stetig wachsende Verkehrsaufkommen – in den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Fahrzeuge auf türkischen Straßen verdoppelt – haben die Bosporus-Brücken zu Engpässen gemacht. Einen wirtschaftlichen Schaden von jährlich rund zwei Milliarden Dollar an verschwendetem Sprit und an verpasster Arbeitszeit verursachten die Dauerstaus, sagt die Regierung.

Rechtzeitig vor den Präsidenten- und Parlamentswahlen in den kommenden zwei Jahren will Erdoğans Regierung mit dem Brücken- und Autobahnprojekt bei den Wählern in Istanbul Punkte sammeln. Die neue Brücke soll acht Fahrbahnen für Autos und zwei Schienenstränge haben, die den Bosporus in rund 60 Metern Höhe überqueren. Computeranimationen der neuen Brücke zeigen zwei elegante Brückenpfeiler und Hochgeschwindigkeitszüge, die auf einer Trasse zwischen den je vier Autobahnspuren über den Bosporus schießen.Gebaut wird die Brücke von einem türkisch-italienischen Konsortium mit koreanischer Beteiligung, das in den ersten zehn Jahren des Betriebs mit der Maut Geld verdienen darf. Anschließend fällt die Brücke dem türkischen Staat zu. Umgerechnet 2,30 Euro soll eine Überfahrt im Auto kosten.


Der größte Flughafen der Welt.
Nordwestlich der Brücke soll in den kommenden Jahren zudem ein neuer Flughafen entstehen, der größte der Welt. Brücke und Flughafen gehören zu einer Reihe von Großprojekten, mit denen Erdoğan bis zum 100. Jubiläum der Gründung der Republik im Jahr 2023 eine modernisierte Türkei schaffen will. Im Istanbuler Stadtparlament warnt die Oppositionspartei CHP, die Brücke und der neue Flughafen würden die Wälder im Istanbuler Norden, die grüne Lunge der Großstadt, „wie ein Dolch“ durchbohren. Auch erinnert die CHP daran, dass Erdoğan in seiner Zeit als Istanbuler Bürgermeister in den 1990er-Jahren eine dritte Brücke vehement abgelehnt hat.

Viele Experten sehen das Brückenprojekt ebenfalls skeptisch. Es gehe darum, möglichst vielen Menschen – und nicht Fahrzeugen – eine reibungslose Bosporus-Überquerung zu ermöglichen, sagte Semih Tezcan, ein früherer Professor für Bauwesen an der Istanbuler Bosporus-Universität, kürzlich bei einem Vortrag. Wie andere Fachleute hält Tezcan zusätzliche Brücken für überflüssig, weil der Schwerverkehr nur einen Bruchteil des Aufkommens auf den Brücken ausmache. Um die Pendler von einer Seite des Bosporus auf die andere zu bringen, sei ein Bahntunnel wesentlich effizienter.

Solch ein Tunnel soll noch in diesem Jahr eingeweiht werden, allerdings liegt der sogenannte Marmaray-Tunnel am südlichen Ende des Bosporus unter dem Marmara-Meer und damit weit weg von den Gegenden, in denen die meisten Pendler arbeiten.

Für Erdoğan und seine Partei AKP sind Einwände gegen die dritte Brücke ohnehin nur weltfremdes Geschwätz. Für Istanbul sei die Brücke unabdingbar, sagt Verkehrsminister Binali Yildirim. Istanbuls AKP denkt schon über eine vierte Bosporus-Brücke nach.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2013)

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