Soziologin zu Türkei: „Wut und Angst angehäuft“

Nilüfer Göle
Nilüfer GöleMuammer Kaymaz
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Ihre Heimat sei an der Schwelle zu einer neuen Stufe der Demokratie, sagt die in Paris lehrende Soziologin Nilüfer Göle. „Die Presse“ traf sie in Wien.

Die Presse: Sie erforschen seit Langem das Verhältnis von Islam und Säkularismus in der Türkei, besonders die Schicht städtischer, gebildeter, junger Musliminnen. Haben Sie die Proteste überrascht?

Nilüfer Göle: Die Gesellschaft überrascht einen dauernd, wir können die Geschichte nicht vorwegnehmen, es gibt immer Unerhörtes. Natürlich waren eine gewisse Wut und Angst angehäuft in bestimmten Teilen der Gesellschaft, die sich angesichts der AKP an den Rand gedrängt fühlten. Und eine gesellschaftliche Bewegung ist immer eine Art Ausbruch. Ich habe mich gefragt, wie diese Bewegung mit früheren vergleichbar ist ...

1968, Arabischer Frühling, Occupy-Bewegung – wo sehen Sie Berührungspunkte?

Also der Slogan „Genug ist genug“ ist derselbe Slogan wie bei der französischen 68er-Bewegung. Aber damals war die Jugend zwar auch schon differenziert, aber sie ist quasi als eine „Person“ gekommen, hier hat sich die Mittelschicht generationenübergreifend zusammengeschlossen. Beim Arabischen Frühling ist ebenfalls ein öffentlicher Platz zum Symbol für Öffentlichkeit geworden, aber die Leute auf dem Tahrir-Platz forderten, dass die Mehrheit sich auf demokratischem Weg ausdrücken kann, in der Türkei ist es genau umgekehrt: Wir haben eine demokratisch gewählte, völlig legitime Regierung und auf der anderen Seite Minderheiten aller Art, die sagen, dass Demokratie nicht nur die Stimme der Mehrheit ist, Leute, die das Recht, auf ihre eigene Art zu leben, einfordern. In der Türkei hat es gewissermaßen zu viel Mehrheit gegeben.

Die Kapitalismus- und Globalisierungskritik wiederum erinnert an Occupy Wall Street...

Ja, aber anders als dort gehören die türkischen Demonstranten zu denen, die von der kapitalistischen Entwicklung profitiert haben. Die Gezi-Bewegung hat Elemente all dieser Bewegungen, den Protest gegen zu viel Kommerzialisierung und den Protest gegen die Beschneidung der Freiheiten. Die Besetzung der öffentlichen Sphäre ist auch metaphorisch, Erdoğans Politik hat die Meinungsfreiheit, die Arbeit von Journalisten behindert, und die Art zu leben, etwa mit dem Gesetz zum Alkoholverkauf.

„Wir sind die Frauen, die Erdoğan gern zu Hause sehen würde“, sagte eine Demonstrantin. Sie erforschen seit Langem die Schicht städtischer, gebildeter, junger Musliminnen, die aus Überzeugung Kopftuch tragen und zum Teil feministische Anliegen haben. Wie viele von ihnen haben an den Protesten gegen Erdoğan teilgenommen?

Die Mehrheit der Protestierenden ist schon sehr säkular, aber zum Teil waren es auch junge Frauen mit Kopftuch. An den Protesten nahmen etwa linke muslimische Gruppen teil, die von der Regierung sagen, das sind Kapitalisten mit dem einzigen Unterschied, dass sie beten, wo bleibt die Ethik? Und sie sind gegen zu viel Macht, nicht nur Männermacht. Die Selbstbeschränkung der Macht ist eine verbindende Idee, es gibt auch Kopftuchfrauen, die das fordern, den Respekt dem Bürger gegenüber, Respekt vor der individuellen Wahl.

Aber die Mehrheit der unabhängigen gebildeten Musliminnen ist für Erdoğan?

Bei den unabhängigen gebildeten Frauen, die in die muslimische Bewegung kommen, gibt es sehr verschiedene Positionen. Es gibt welche, die Erdoğan total verteidigen und sagen, die Demonstranten sind wie die Laizisten, die einen Staatsstreich machen wollen. Aber es gibt andere mit Kopftuch, die sagen, diese Bewegung ist nicht wie früher, das ist eine demokratische Bewegung für den Pluralismus.

Und wie neu ist sie in Ihren Augen?

Sie ist etwas ganz Neues in der Türkei und zeigt, dass wir eine neue Stufe in Bezug auf die Demokratie erreichen. Was hier vor sich geht, ist die Überwindung der Polarisierung zwischen Kemalisten und Islamisten. Früher waren die Laizisten gegen die Muslime, sie waren autoritär und bereit, die Armee gegen demokratisch gewählte Politiker einzusetzen. Die Leute hier dagegen akzeptieren die Muslime. Die Frage ist jetzt: Kann Erdoğan diese Menschen ebenfalls anerkennen und einschließen? Viele Muslime schließen sich den Protestierenden heute an und sagen, der Staat hat zu viel interveniert. Es ist für sie dasselbe, das Kopftuch in der Öffentlichkeit zu verbieten, wie den Alkohol.

Sie haben keine Angst vor einer Islamisierung?

Schauen Sie die Bewegung an! Sie zeigt, dass es auch ohne Armee eine Verteidigung säkularer Werte durch die Gesellschaft gibt, und das ist ja die Demokratie, ein System von Checks and Balances. Beobachter haben immer gesagt, ohne Armee wird die Türkei islamistisch. Heute geht es nicht mehr ums Entweder-oder, sondern darum, wie Säkularität und Islam gemeinsam existieren können.

Welche Rolle spielen Frauen bei der Versöhnung?

Die gebildeten, städtischen Musliminnen waren schon an den Unis, bevor die AKP an der Macht war. Sie sind ein Motor der intellektuellen Rückkehr der Religion, die wir in der Türkei beobachten. Aber sie sind in einem säkularen Rahmen ausgebildet und haben große Vielfalt erlebt. Diese Welten versuchen sie jetzt zusammenzubringen.

Zur Person

Nilüfer Göle, geboren 1953 in Ankara, lehrte Soziologie in Istanbul und seit 2001 an der École des hautes études en sciences sociales in Paris. Sie forscht zu Islam und Säkularismus, derzeit nimmt sie in Wien an einer Konferenz des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) zu Religion und Säkularisierung teil.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2013)

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