An der Front in Aleppo: „Die Hisbollah hat Angst“

A Free Syrian Army fighter carrying his weapon is seen near the frontline in the Al-Sakhour neighborhood of Aleppo
A Free Syrian Army fighter carrying his weapon is seen near the frontline in the Al-Sakhour neighborhood of AleppoREUTERS
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Die Rebellen der „Freien Männer Syriens“ schwanken zwischen Übermut und Unsicherheit. Sie wissen, dass die Entscheidungsschlacht um die größte Stadt des Landes naht.

Die Rakete sitzt“, sagt Abu Hamaza. „Alle in Deckung.“ Der Frontkommandant brennt die Zündschnur an. „Allahu Akbar, Gott ist groß“, rufen die etwa 30 Kämpfer des letzten Außenpostens auf einem Hügel von Kafra Hamra, eine gute Autostunde von Aleppo entfernt. Das kleine Sprengstoffsäckchen im Rohr der Rakete explodiert mit ohrenbetäubendem Lärm. Aber statt die tödliche Fracht auf die syrische Armee abzuschießen, die keinen Kilometer entfernt im Tal und auf dem gegenüberliegenden Berg stationiert ist, wird die Rakete in zwei Teile gerissen. Wohin der Sprengsatz geflogen ist, weiß keiner.

„Das macht nichts“, sagt einer der Rebellen, und die umstehenden Kameraden lachen. „Wir wissen nie genau, wohin unsere Raketen fliegen.“ Die Kämpfer der Brigade der „Freien Männer Syriens“ (FSA) sind bei guter Laune, obwohl sie an der derzeit wichtigsten Front in der Region Aleppos stehen und täglich beschossen werden. In den Häusern der unfertigen Neubausiedlung klaffen Löcher vom Mörserbeschuss. Ein Wagen mit einem Douschka-Maschinengewehr erhielt erst am Vortag einen Volltreffer und steht völlig ausgebrannt auf der Straße. Die 300 Mann des Außenpostens sollen einen Vorstoß der syrischen Armee und der schiitischen Hisbollah verhindern, die seit Jänner für das Regime kämpft. In den beiden vergangenen Wochen konnten sie Geländegewinne erzielen. „Sie wollen eine Verbindung vom Teil Aleppos, den die Regierung kontrolliert, zu den beiden schiitischen Städten Nobul und Zahraa, die von uns eingekreist sind“, erklärt später Abu Hajel im Hauptquartier. Er ist ehemaliger Leutnant der syrischen Armee und einer der beiden Führer der „Freien Männer Syriens“, die für die vorderste Frontlinie verantwortlich sind.

„Sie wollen eine Nachschubroute einrichten, die über diese Städte bis zum Flughafen Mennag reicht.“ Diese Militärbasis liegt etwa 20 Kilometer von Nobul und Zahraa entfernt und wird von den Rebellen seit zehn Monaten belagert. Die Luftwaffe fliegt dort täglich schwere Luftangriffe, um die Einnahme durch die Rebellen zu verhindern. Sollte es den Regierungstruppen tatsächlich gelingen, tief in den von den FSA kontrollierten Norden von Aleppo vorzudringen, wäre sie von den Munitions- und Waffenlieferungen aus der Türkei abgeschnitten.

„Wir sind bestens gerüstet“

„Wir sind bestens gerüstet und werden das zu verhindern wissen“, meint Leutnant Hajel. Von seiner Liwa (großer Kampfverband, der sich aus vielen kleineren Katibas zusammensetzt) sind 2500 Mann in Kafra Hamra stationiert. Es gebe aber noch zahlreiche weitere Liwas, die für den Ernstfall bereitstünden.

Internationale Medien haben berichtet, dass die „Freien Männer Syriens“ neue Waffen aus Saudiarabien erhalten hätten, nachdem sich die USA bereit erklärt hatten, die FSA militärisch zu unterstützen. Dazu gehörten russische Panzerabwehrgranaten des Typs Konkurs, mit denen man die syrischen T72 ausschalten kann. „Wir haben keine dieser Granaten erhalten“, versichert Abu Hajel. „Wir haben welche, aber die stammen aus den Lagern der syrischen Armee.“ Es gebe zwar neue Waffenlieferungen aus Saudiarabien, aber die seien verschwindend gering. Nur ausgewählte Rebellengruppen würden sie erhalten. „Sie gehen direkt an Mohammed Ali von der Liwa Hafed Rasul und an Jamal Aruf von den Schuhada Syria.“

In Kafra Hamra ist man von den Hisbollah-Kämpfern, die in den vergangenen Wochen in die von den FSA eingekreisten schiitischen Orte eingeflogen wurden, wenig beeindruckt. „Bisher haben sie nicht gezeigt, dass sie gute Kämpfer sind“, sagt Hajel abfällig grinsend. „Das sind keine Elitesoldaten, sie haben Angst.“ Er schaltet das Funkgerät ein. Nach einer Weile hört man libanesischen Dialekt. Wie viele Hisbollah-Kämpfer sich in Nobul und Zahraa befinden, ist unbekannt. „Aber dort ist nicht nur die Hisbollah“, erklärt der Liwa-Führer. „Wir hören über Funk auch irakischen und jemenitischen Dialekt der schiitischen Houthi.“

Und nicht zu vergessen die Iraner. Zum Beweis legt er einen iranischen Ausweis auf den Tisch, der auf den Namen Hadsch Ibrahim ausgestellt ist. „Den haben wir ganz in der Nähe in einer syrischen Militäranlage gefunden, nachdem die Soldaten Hals über Kopf davongelaufen waren.“ In den schiitischen Städten Nobul und Zahraa leben über 70.000 Menschen, sie werden Tag für Tag aus der Luft mit Lebensmitteln versorgt. In Aleppo fliegen jeden Tag frühmorgens Hubschrauber über die größte Stadt Syriens. Selten sind Kampfflugzeuge zu hören. Angriffe beschränken sich auf die Front – und das, im Vergleich zu früheren Zeiten, in eingeschränktem Maß. „Regimetruppen versuchen hie und da vorzustoßen“, sagt Abdel Jabaar Akeidi, der Chef des Militärrats von Aleppo. „Die groß angekündigte Offensive hält sich in Grenzen.“ Der ehemalige Oberst der syrischen Armee ist aber überzeugt: „Es wird etwas kommen.“

Selbstmordkommando in Kusseir

Wie alle Militärs der Rebellen gibt sich Akeidi kämpferisch. „Wir sind darauf vorbereitet und werden ihnen Überraschungen bereiten, die sie nie vergessen werden.“ Er spielt damit auf die militärischen „Überraschungen“ an, mit denen sich gewöhnlich die Hisbollah gegenüber ihrem Erzfeind Israel einen Vorteil verschafft. In seinen Worten schwingt jedoch Unsicherheit mit.

Der Oberst war der Stadt Kusseir mit 300 Mann aus Aleppo vergeblich zu Hilfe gekommen. Sie mussten die Grenzstadt zum Libanon aufgeben. „Es war ein Selbstmordkommando“, gibt Akeidi zu. Nicht zuletzt wegen der neuen Waffensysteme, die die Hisbollah aus dem Iran geliefert bekam. „Sie haben Vakuumraketen, die ganze Gebäude einstürzen lassen, eine neues, Anti-Mörser-System und jede Menge Drohnen“, meint der Militärratschef. Er hat gerade 15 Kommandeure empfangen, um die Lage zu besprechen. „Ich kann ihnen aber versichern“, sagt Akeidi, „alle, aber auch alle Gruppen ziehen jetzt an einem Strang.“ Das ist auch notwendig, sollte die seit Wochen vorbereitete Offensive auf den von den Rebellen kontrollierten Teil Aleppos beginnen. Es wäre die Entscheidungsschlacht um die Stadt und sicherlich auch um den Sieg im syrischen Bürgerkrieg.

An einem geheimen Ort etwas außerhalb Aleppos, in einer verlassenen Gegend, befindet sich die Bombenwerkstatt der Liwa al-Maschid. Hier wird auf Hochtouren gearbeitet, um Handgranaten und Mörser herzustellen. „Jeder, der die Unkosten bezahlt, wird von uns beliefert“, erläutert Abu Ali, der Führer von al-Maschid. Er ist einer der wenigen Rebellenkommandanten, der die Exekution von gefangenen Regimesoldaten verboten hat. Er lehnt auch die radikalen Islamisten ab und kritisiert die neue Religionspolizei, die in Aleppo ihr Unwesen treibt. „Ich bin nicht grundsätzlich gegen die al-Heya al-Schraiha, aber sie erniedrigt die Menschen und oktroyiert ihnen Dinge, die sie nicht wollen.“

In der Fräswerkstatt zeigt Abu Ali das neueste Produkt. „Bisher hatten wir Mörser mit 1,3 Kilogramm Sprengsätzen, aber jetzt rüsten wir auf sechs Kilogramm auf.“ Abu Ali hebt einen der schweren, runden Metallteile mit zufriedener Miene in die Höhe.

In der Bombenwerkstatt

In einem anderen Gebäude werden die Sprengsätze gefertigt. Am Boden auf einer Plane liegt ein grünbrauner, grobkörniger Pulverhaufen. „Eine Mischung aus TNT und C4“, erklärt Abu Ali. Im hinteren Teil des Hauses sitzen zwei junge Kerle und füllen eine helle Paste in kleine weiße Säckchen, die als Treibsatz der Mörser verwendet werden. „Rauchen dürfen wir hier nicht“, sagt Abu Ali schmunzelnd und befiehlt, Tee zu kochen. Der 40-Jährige ist sichtlich stolz auf seine beiden Werkstätten, in denen er seit drei Monaten hunderte Mörser und tausende Handgranaten fabriziert hat.

Nach Tee und Zigaretten geht es auf eine Rundfahrt entlang der Front in Aleppo. In jeder Seitenstraße an der Grenze zum al-Midan-Viertel sind Brigaden untergebracht. Auf den Dächern liegen Scharfschützen und Wachposten, um jede Bewegung der Regierungstruppen zu erkennen. In einigen Straßen hängen Tücher quer über die Fahrbahn, um gegnerischen Scharfschützen die Sicht zu rauben. In einer früheren Mercedes-Werkstatt liegen selbst gebastelte 50-Kilogramm-Bomben. „Damit bringt man ein ganzes Haus zum Einsturz“, meint Abu Ali. „Sie sollen nur kommen, wir sind gerüstet.“ Auf dem Rückweg kann sich der Liwa-Führer einen Seitenhieb gegen den Westen nicht verkneifen. „Sie sprechen von Demokratie in Syrien, aber wie sollen wir die Leute davon überzeugen, wenn uns der Westen im Stich lässt?“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2013)

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