Bulgarien: "Lage explosiv wie in einem Druckkochtopf"

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Bulgarien: "Lage explosiv wie in einem Druckkochtopf"(c) EPA (VASSIL DONEV)
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Sergej Stanischew, Chef der bulgarischen Sozialisten, verteidigt die linksliberale Regierung gegen ihre Kritiker auf den Straßen Sofias. Bulgarien brauche nach unruhigen Monaten endlich Stabilität.

Die Presse: Seit Tagen gehen die Menschen in Sofia auf die Straße und fordern den Rücktritt der Regierung, nachdem mit Deljan Peewski, ein gelinde gesagt nicht ganz lupenreiner Politiker, Chef der Nationalen Sicherheitsbehörde werden sollte. Haben Sie Verständnis für die Proteste?

Sergej Stanischew: Wir lebten dreieinhalb Jahre unter einer autoritären Regierung, unter der jeglicher Widerspruch unterdrückt wurde. Die Lage ist nun explosiv wie in einem Druckkochtopf. Im Februar bildete sich eine Protestbewegung, nicht nur wegen hoher Stromrechnungen, sondern weil die Menschen das Gefühl hatten, dass der Staat nichts für ihre Interessen tut. Das führte zur vorgezogenen Wahl im Mai. In unserer Gesellschaft liegen die Nerven blank, und wenn man einen Nerv falsch berührt, ist die Reaktion sehr stark.


Sie meinen den Fall Peewski.

Die Regierung hat ihre Lektion gelernt. Nun ist es wichtig, die wahren Probleme anzusprechen: Strompreise, Armutsbekämpfung, Aktivierung der Wirtschaft – das steht alles auf der Liste von Premier Orescharski.

Sie gestehen ein, dass die Ernennung Peewskis ein Fehler war. Aber die Demonstrationen haben auch nach seiner Abberufung nicht aufgehört.

Es gibt unterschiedliche Forderungen der Protestierenden ...


Die Botschaft ist ziemlich eindeutig: Sie fordern die Regierung zum Rücktritt auf.

Die Regierung hört auf die Menschen und ihre Forderungen. Aber es wäre komplett unverantwortlich, jetzt vorzeitig Wahlen durchzuführen und jene wieder an die Macht zu lassen (gemeint ist Bojko Borissows Partei Gerb, Anm.), die Menschen dazu gebracht haben, sich anzuzünden. Und differenzieren Sie bitte zwischen Sofia und den Provinzstädten, wo es ruhig ist. Die Lage ist anders als im Februar. Die Menschen wollen, dass die Regierung arbeitet und die sozialen und ökonomischen Probleme löst. Das ist es, was wir machen sollten.

Aber hätten Sie nicht ahnen müssen, dass es wegen Peewski zu einem Aufschrei kommt?

Die Regierung glaubte, dass schnelles Handeln wichtig sei, um schnelle Maßnahmen gegen Schmugglerei und andere Verbrechen zu unternehmen. Die Idee war daher, eine sehr entschlossene Person zu finden.

Entschlossen?

Das war die Motivation. Die Regierung muss jeden ihrer Schritte gut überlegen, aber gleichzeitig entscheidungsfreudig sein.


Wie wollen Sie dem Volk beweisen, dass Ihre Regierung unabhängig von Oligarchen ist?

Durch Taten. Ab Juli sollte es eigentlich zu einer 20-prozentigen Anhebung des Strompreises kommen. Wir werden ihn stattdessen um fünf Prozent reduzieren. Die Hälfte der Bulgaren leben in Armut, diese Menschen wollen eine Regierung, die sich um sie kümmert. Deshalb werden wir ab Juli auch die Kinderbeihilfe erhöhen, und das in einer sehr schwierigen Budgetsituation. Ebenso werden Schritte gegen Bürokratie und Korruption gesetzt, damit die Wirtschaft wieder zu laufen beginnt.


Im Parlament haben die Regierungsparteien keine Mehrheit. Sie müssen auf Unterstützung der ultranationalistischen Ataka zählen.

Wir haben keine Unterstützung von Ataka. Die einzige Regierung, die von Ataka unterstützt wurde, war die von Borissow. Warum hat damals niemand aufgeschrien, die Medien, die Europäischen Konservativen? Die Regierung wird von den Sozialisten und der liberalen DPS unterstützt.


Aber Sie hängen vom Goodwill von Ataka ab, sei es nur durch die Registrierung der Abgeordneten, damit das notwendige Quorum erzielt wird.

Bleiben wir bei den Fakten. Wir werden nicht von Ataka unterstützt. Ataka registriert sich nur im Parlament, damit die Arbeit funktionieren kann. Das ist alles. Finden Sie es nicht sonderbar, wenn die größte Partei die Arbeit des Parlaments blockiert, indem sie nicht an Sitzungen teilnimmt? Ist das etwa konstruktive Oppositionsarbeit?


Wie könnte eine Kooperation mit Gerb aussehen?

Sie ist willkommen, sich an der Parlamentsarbeit zu beteiligen. Bulgarien muss mit der EU über seinen Finanzrahmen diskutieren. Hier sollten wir nationale Prioritäten festlegen. Wir sind eine demokratische Partei, wir wollen, dass die Opposition in diesem Prozess beteiligt ist. Aber vom ersten Tag an wandten sie sich ab und wollten den Willen des Volkes nicht akzeptieren. Aber so sieht demokratische Mathematik nun mal aus.

Sie stehen selbst unter Druck in Ihrer Partei, prominente Sozialisten wie Rumen Petkow fordern Ihre Ablösung. Wie wollen Sie Ruhe schaffen?

Herrn Petkows Zwischenrufe können meine Position in der Partei nur enorm stärken.

Auf einen Blick

Sergej Stanischew (47) führt seit 2001 Bulgariens Sozialistische Partei (BSP) und ist seit 2011 Chef der Europäischen Sozialisten (PES). Er war 2005 bis 2009 Premier. Seine Partei landete bei der vorgezogenen Wahl im Mai an zweiter Stelle und erhielt den Auftrag zur Regierungsbildung, da Wahlsieger Bojko Borissow keinen Koalitionspartner fand. Seit drei Wochen regieren die Sozialisten mit der Partei der türkischen Minderheit. Mit der (mittlerweile zurückgezogenen) Ernennung von Deljan Peewski (32) zum Chef der Nationalen Sicherheitsagentur Dans erlebt die Regierung derzeit eine Bewährungsprobe.
„Die Presse“ traf Stanischew am Jahrestreffen der PES, das am vergangenen Samstag in Sofia stattfand.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2013)

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