Özel: „Die AKP ist von der Macht berauscht“

Soli Özel
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In der türkischen Gesellschaft habe sich Druck aufgestaut wie vor einem Erdbeben, erklärt Politologe Özel die jüngsten Proteste. Die Leute hätten Erdoğans konfrontativen Stil satt.

Die Presse: Hätten Sie vor einem halben Jahr gedacht, dass ein paar Bäume in einem Istanbuler Park Erdoğan solche Probleme bereiten könnten?

Soli Özel: Nicht wirklich. Ehrlich gesagt, vor einem halben Jahr hat man sich nicht vorstellen können, dass irgendetwas ihm derartige Probleme bereiten könnte. Die Bäume waren aber offenbar nur der letzte Auslöser, in der Gesellschaft war eine Art Kipppunkt erreicht. Im Endeffekt ging es dann ja gar nicht mehr um die Bäume, sondern die Brutalität der Polizei.

Der Protest hätte sich also an einem beliebigen Thema entzünden können, es war einfach die Zeit dafür reif?

Ja, es hat sich über die Jahre immer mehr Druck angesammelt, der sich irgendwann entlädt, wie bei einem Erdbeben. Vor allem stoßen sich die Menschen am Stil seiner Herrschaft, an dem permanent konfrontativen Stil, an der sehr brutalen Sprache. Er zwingt den Leuten auf, was er für richtig hält, etwa bei Themen wie Abtreibung oder Alkohol. Oft ist es vor allem die Art und Weise, wie er seine Politik präsentiert, die die Leute ärgert. Außerdem stört sie der Umgang mit den Bürgerrechten und der Pressefreiheit, den Rechten der Arbeiter und der Studenten.

Aber gerade bei diesen Themen haben auch die anderen Parteien keine bessere Bilanz vorzuweisen...

Nein, das betrifft nicht nur die AK-Partei von Erdoğan. Und man sieht ja auch deutlich, dass die Opposition von den Protesten gar nicht profitiert, was auch einiges über den Zustand dieser Opposition aussagt. Die AKP ist einfach von der Macht berauscht und beginnt, sie zu missbrauchen. Viele Leute, sie sich sonst nicht engagieren, hat die Reaktion der Sicherheitskräfte betroffen gemacht. Die Sache ist erst durch die Brutalität der Polizei so groß geworden, das hat eine Kettenreaktion in der zu lange zu duldsamen Bevölkerung ausgelöst.

Kann Erdoğan nach dieser Protestwelle noch sein Ziel erreichen, ein Präsidialsystem einzuführen?

Ich glaube, dass er das auch ohne diese Proteste nicht geschafft hätte. Ich zweifle daran, dass er das System ändern kann. Im Übrigen sind die Vollmachten des Präsidenten in der Türkei gar nicht so gering, das ist nicht so wie in Österreich. Die derzeitige Verfassung gibt ihm sehr wohl exekutive Macht. Dass der Präsident sie nicht nützt, ist eine andere Sache.

Die AKP scheint kein einheitlicher Block mehr zu sein, wenn man sich Aussagen von Präsident Gül oder Vizepremier Arinç ansieht. Wächst die Unzufriedenheit mit Erdoğan?

Es gibt da sehr wohl Leute, die nicht damit zufrieden sind, wir er mit der gegenwärtigen Situation umgeht. Aber es ist niemand in der Position, ihn herauszufordern, dazu ist Erdoğan zu mächtig. Man hat jetzt wieder gesehen, wie er seine Basis mobilisieren kann, indem er einfach mit den Ängsten und Instinkten der Menschen spielt. Es wäre politischer Selbstmord, wenn jemand ihn frontal herausfordern würde.

Was ist mit Abdullah Gül?

Gül ist keine konfrontative Person. Auch wenn sich viele Leute das wünschen würden, aber er ist zu passiv. Wenn er sich allerdings dazu entschließen würde, hätte er mehr als nur eine Chance.

Erdoğan wurde in der EU lange Zeit als Reformer gepriesen. Hat man sich in ihm getäuscht?

Nein, denn als er an die Macht kam, hat er zunächst tatsächlich viele Reformen auf den Weg gebracht. Er hat auch das Militär als politische Kraft geschwächt, was in der Bevölkerung gut ankam. Aber der Schwung der Reformen ist in den vergangenen Jahren erlahmt. Trotzdem gab es auch zuletzt noch Reformen, und in der Kurden-Frage hat er ja eine 180-Grad-Wende vollzogen. Eines ist aber trotz aller Reformen schwer: Erdoğan einen liberalen Demokraten zu nennen.

Ist die Lösung der Kurden-Frage bereits in trockenen Tüchern?

Bis jetzt sieht es ganz gut aus, es ist nach wie vor Bewegung in der Sache. Es ist aber zu früh zu sagen, dass alles bereits auf Schiene wäre.

Wenn die Proteste weitergehen, werden sie der Wirtschaft und dem Tourismus schaden: Könnte Erdoğan die für ihn wichtige Unterstützung aus der Wirtschaft verlieren?

Auch hier gilt: Sein großer Trumpf ist, dass es keine sichtbare Alternative zu ihm gibt. Natürlich fürchten viele, dass das schlecht für ihr Business ist, aber was das tatsächlich für einen Effekt hat, muss man erst sehen. Mittel- und langfristig könnte es aber den Blick der Investoren auf die Türkei verändern.

Wie hat die EU Ihrer Ansicht nach auf die Gezi-Park-Krise reagiert?

Ich denke, dass die EU generell und manche Länder im Speziellen das Türkei-Dossier miserabel gehandhabt haben. Als die Krise um den Gezi-Park ausbrach, hatte die EU schon nicht mehr viel Einfluss im Land. Immerhin hat man mit der heutigen Lösung einen halbwegs passablen Ausweg gefunden.

Zur Person

Soli Özel, Professor für Internationale Beziehungen an der Kadir-Has-Universität in Istanbul, diskutiert am Donnerstag im Institut für die Wissenschaften vom Menschen (Spittelauer Lände 3) mit Ivan Krastev und „Presse“-Außenpolitikchef Christian Ultsch über die jüngste Protestwelle in der Türkei.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.06.2013)

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