Bis zur Revolution 2011 waren die Muslimbrüder vor allem mit sozialen Wohltaten aktiv. Ihr dichtes Organisationsnetz ermöglichte ihnen die Umwandlung zur politischen Kraft.
Um das Wesen der Muslimbruderschaft zu begreifen, blickt man am besten auf die Präsidentenwahl 2012 zurück: Khairat al-Shater, der eigentliche Kandidat, wurde disqualifiziert, doch selbst Ersatzmann Mohammed Mursi gelang ein 52-Prozent-Sieg. Er wurde gewählt, nicht weil er Mohammed Mursi war, sondern der Kandidat der Bruderschaft. Der einzelne ist wenig, die Organisation alles. Auf dem Papier war er zwar aus der Bruderschaft ausgetreten, dass er deren Ziel – eine umfassende und tiefgehende Islamisierung – aber plötzlich nicht mehr teilte, nahm niemand an.
Die Bruderschaft wurde 1928 vom 22-jährigen Hassan al-Banna gegründet. Sie war antikolonialistisch orientiert und von Beginn an stark im Mittelstand verwurzelt. Das ist bis heute so, viele ihrer Funktionäre sind Ärzte, Lehrer, Techniker und Unternehmer. Man muss dabei strikt unterscheiden zwischen formellen Mitgliedern und Anhängern. Die Muslimbruderschaft ist eine sehr hierarchisch organisierte Kaderorganisation. Um als Vollmitglied Aufnahme zu finden, wird man ideologisch auf Herz und Nieren geprüft und muss sich jahrelang bewähren. Engagement und Gehorsam stehen im Pflichtenheft ganz oben.
Anhänger aus Dankbarkeit
Die Organisation erwies sich über die Jahrzehnte als äußerst wandelbar: 1952 stand sie an der Seite der putschenden „freien Offiziere“, nach einem Anschlag auf Präsident Nasser wurde sie 1954 aber verboten. Ihre militanten Wurzeln hat sie mittlerweile gekappt.
Ab den 1970er-Jahren zusehends geduldet, baute die Bruderschaft ein dichtes Organisationsnetz über ganz Ägypten auf. Sie verlegte sich auf soziale Aufgaben und Jugendarbeit, sprang etwa mit Krankenstationen dort ein, wo der Staat versagte. Dies brachte ihr eine treue Anhängerschaft ein. Erwartungsgemäß war sie dadurch nach der Revolution, der sie sich nur zögerlich anschloss, am besten gerüstet für die ersten freien Wahlen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.07.2013)