Türkei: Finale im Ergenekon-Prozess

Tuerkei Finale ErgenekonProzess
Tuerkei Finale ErgenekonProzess(c) REUTERS (UMIT BEKTAS)
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Am Montag wird ein Urteilsspruch im Mammutprozess gegen den Geheimbund Ergenekon erwartet. 278 Angeklagte stehen vor Gericht. Eine Sensation ist der Fall Ergenekon lange nicht mehr.

Wien/Istanbul. Es war ein gewaltiges Erdbeben. Vor sechs Jahren haben türkische Ermittler in einem notdürftig zusammengebastelten Haus im Istanbuler Stadtteil Ümraniye ein illegales Waffenlager ausgehoben, und was dann folgte, hatte einen bisher noch nie da gewesenen Symbolwert: Das Lager wurde dem geheimen paramilitärischen Bund Ergenekon zugeschrieben, einer mutmaßlichen Verbindung von machthungrigen Armeemitgliedern, die innerhalb des türkischen Staates ihren eigenen Staat modellieren wollten.

Bis dahin galt das türkische Militär, das sich selbst jahrzehntelang als väterlicher Hüter der kemalistisch-laizistischen Staatsordnung definierte, als unantastbar. Ümraniye war eine Sensation. Was aber mit über 30 Verhaftungen begann, wurde zu einem Mammutverfahren mit nicht weniger als 278 Angeklagten – zumindest im Hauptprozess. Für heute, Montag, werden die Urteilssprüche in diesem Prozess erwartet.

Eine Sensation ist der Fall Ergenekon lange nicht mehr; die fast schon regelmäßigen Verhaftungswellen nach Ümraniye sind zuletzt nur noch zur Randnotiz verkommen. Dabei zeichnete sich anfangs ein gezielter Angriff auf die Spitze eines von Generälen besetzten Geheimbundes ab. Ergenekon entwickelte sich aber zu einem Begriff mit viel Interpretationsspielraum, bemängeln Kritiker: Journalisten, Autoren, Professoren, Oppositionelle und Verwandte von Angeklagten, allesamt durchaus regierungskritisch, wurden ebenfalls verhaftet. So erhielt der Hauptprozess eine Reihe von gerichtlich ausgelagerten Nebenschauplätzen, etwa die Attacke auf die Redaktion der Zeitung „Cumhuriyet“ mit Molotowcocktails sowie der laut Anklage geplante Mord an den griechisch-orthodoxen Patriarchen Bartholomäus I. Die Liste ist durchaus lang.

Geplante Morde sind auch ein wesentlicher Anklagepunkt im Ergenekon-Hauptprozess. Die erste Verhaftungswelle hat den Dunstkreis des pensionierten Generals Veli Küçük betroffen, eines prominenten Mannes, der bis zum Hals im Sumpf der Korruption stecken soll. Zudem wird Küçük vorgeworfen, im Mord (2007) an den türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink verwickelt gewesen zu sein. Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk und Kurden-Politikerin Leyla Zana sind weitere Namen, die laut Ankläger auf einer Ergenekon-Todesliste zu finden sind. Zudem sollen Mitglieder des Geheimbundes einen Putsch vorbereitet haben. Demnach sollen gezielte Provokationen den türkisch-kurdischen Konflikt anheizen, damit das Militär Grund zu einem Eingriff hat.

Gegenschlag der Regierungspartei

Eine weitere Verhaftungswelle fiel wohl nicht zufällig mit jenem Antrag zusammen, den der Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalçinkaya dirigiert hatte. Er forderte ein Verbot der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und an jenem Tag im Juni 2008, an dem Yalçinkaya sein Plädoyer hielt, holte die AKP-Regierung zu einem Gegenschlag aus: Hausdurchsuchungen und weitere Festnahmen im Fall Ergenekon, darunter den ehemaligen Rektor der Istanbuler Uni sowie Doğu Perinçek, Vorsitzenden der sowohl maoistisch als auch nationalistisch ausgerichteten Arbeiterpartei.

Genau hier offenbart sich der tiefer liegende Konflikt rund um den Prozess. Die militärische Elite hat den demokratischen Machtwechsel der AKP unter dem Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan nie überwunden. Während die AKP den Dialog mit dem Westen nicht scheut, soll Ergenekon von einer abgeschotteten, ethnisch homogenen Republik träumen. Minderheiten hätten hier also keinen Platz, während die AKP einen minderheitenfreundlichen Kurs eingeschlagen hat.

Die AKP nützt den Ergenekon-Prozess, um das Militär in Schach zu halten. Während nur wenige die Existenz von Ergenekon infrage stellen, weiß die Öffentlichkeit seit Prozessbeginn aber auch nicht viel mehr über die Strukturen dieses als terroristischer Verein eingestuften Bundes. Der britische Türkei-Experte Gareth Jenkins, der die mehrere tausend Seiten umfassende Anklage unter die Lupe genommen hat, glaubt nicht an die Existenz von Ergenekon. Er wirft den Ermittlern vor, nicht minder verschwörerisch vorzugehen. Manche angeblichen Ergenekon-Mitarbeiter würden sich in Wahrheit nicht einmal die Hand geben.

Und warum auf der angeblichen Todesliste eines Generals just sein eigener Name stünde, sei auch äußerst verwunderlich.

Auf einen Blick

Ergenekon ist der Name eines weit verzweigten Geheimbundes, der den Sturz der gemäßigt islamistischen Regierung geplant haben soll – im Hauptprozess, der heute seinen Abschluss findet, sind 278 Personen angeklagt. Die Ergenekon-Mitglieder – darunter zahlreiche hochrangige Militärs – sollen eine Mordwelle geplant haben, um die Türkei zu destabilisieren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2013)

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