Die Polizei stürmte die Zeltlager der Mursi-Anhänger. Mehrere hundert Menschen starben. Die Räumung löste landesweite Unruhen aus. Vizepräsident ElBaradei reichte aus Protest seinen Rücktritt ein.
In Ägypten haben sich am Mittwoch bürgerkriegsähnliche Szenen abgespielt: Sicherheitskräfte räumten die Protestlager der Anhänger des gestürzten Präsidenten Mohammed Mursi in Kairo. Hunderte Menschen wurden dabei getötet. Die Nachricht vom Blutbad in Kairo löste landesweit schwere Unruhen aus. Extremisten griffen dabei auch Kirchen an. "Die Islamisten rächen sich an uns Christen", sagte dazu ein Bischof. Um Punkt 16 Uhr verhängte Präsident Adli Mansour schließlich einen einmonatigen Ausnahmezustand über Ägypten.
Währenddessen hat Vizepräsident und Friedensnobelpreisträger Mohamed ElBaradei nach den schweren Ausschreitungen seinen Rücktritt eingereicht. Er trete aus Protest gegen die Gewalt in Ägypten zurück, teilte der Vizepräsident am Mittwoch in einem Schreiben an Mansour mit. Er könne nicht länger "Verantwortung für Entscheidungen übernehmen, mit denen ich nicht einverstanden bin" (>>>mehr dazu).
US-Außenminister John Kerry hat das Blutvergießen in Ägypten als "beklagenswert" bezeichnet. Der verhängte Notstand müsse so schnell wie möglich beendet werden, sagte Kerry in einem überraschenden Auftritt vor Journalisten in Washington. Er rief alle Seiten "innerhalb und außerhalb der Regierung" auf, die Gewalt zu beenden. "Dies ist ein entscheidender Moment für alle Ägypter", sagte Kerry. Kerry hat die ägyptische Armee zur Abhaltung von Neuwahlen aufgerufen. "Die heutigen Ereignisse sind bedauerlich und konterkarieren Ägyptens Streben nach Frieden, Inklusion und echter Demokratie", sagte der Außenminister.
Ausgangssperren in zwölf Provinzen
Der ägyptische Übergangspräsident Mansour begründete die Maßnahmen mit der "Gefahr für Sicherheit und Ordnung" durch "gezielte Sabotage und Angriffe auf private und öffentliche Gebäude und den Verlust an Leben durch extremistische Gruppen". Übergangspräsident Mansour habe die "Streitkräfte in Kooperation mit der Polizei beauftragt, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um Sicherheit und Ordnung zu wahren und öffentliches und privates Eigentum sowie das Leben der Bürger zu schützen", hieß es weiter. Für Kairo und elf weitere Provinzen, darunter Alexandria und Suez, wurde eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Danach darf sich zwischen 19.00 Uhr und 6.00 Uhr niemand auf den Straßen bewegen.
Seit Wochen hatte die Regierung den islamistischen Mursi-Anhängern mit der Räumung ihrer Zeltlager vor der berühmten Moschee Rabaa al-Adawija und auf dem al-Nahda-Platz gedroht. Am Mittwoch im Morgengrauen schlugen die Sicherheitskräfte schließlich zu. Im Staatsfernsehen war zu sehen, wie Bulldozer die von den Demonstranten errichteten Barrikaden aus Sandsäcken zerstörten. Die Sicherheitskräfte setzten laut Augenzeugen Gummigeschoße und Tränengas ein. TV-Bilder zeigten zudem, wie auf Dächern postierte Sicherheitskräfte in die Menge feuerten. Mittlerweile soll das kleinere Protestcamp, jenes am Nahda-Platz, "vollständig unter der Kontrolle der Sicherheitskräfte stehen", wie das Innenministerium mitteilte.
Am Abend sollen Hunderte von Anhängern des entmachteten Präsidenten Mohammed Mursi nach Beobachtungen eines dpa-Reporters das Protestlager vor der Rabaa-al-Adawiya-Moschee in Kairoer Stadtteil Nasr-City verlassen haben. Polizeibeamte sagten, fast alle Teilnehmer der Protestaktion, die bis zuletzt Widerstand geleistet hatten, seien inzwischen abgezogen. Unter den abziehenden Demonstranten waren auch einige verschleierte Frauen.
Spur der Verwüstung
Die Räumungsaktion zog eine Spur der Verwüstung nach sich (--> Diashow), zahlreiche Menschen starben. Ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP zählte alleine auf dem Rabaa-al-Adawiya-Platz nach jüngsten Angaben alleine 124 Tote, viele der Opfer hätten Schusswunden aufgewiesen. Die Demonstranten sprachen zuletzt von mehr als 2200 Toten und etwa 10.000 Verletzten. Das Gesundheitsministerium gab die Zahl der Opfer in Kairo und anderen Landesteilen zuletzt mit 278 an, darunter 43 Polizisten. Weit mehr als tausend Menschen seien verletzt worden. Mursi-Anhänger hatten dagegen schon am Nachmittag von mehr als 2200 Toten und 10.000 Verletzten gesprochen.
Unter den Opfern des Blutbads in Kairo war auch ein britischer Kameramann des Senders "Sky News": Der 61-jährige Mick Deane wurde bei der Räumung der Protestlager von einer Kugel getroffen.
Mehrere Mursi-Anhänger haben die dramatischen Szenen in den Zeltlagern aus ihrer Sicht geschildert. "Das Tränengas fiel wie Regen vom Himmel. Doch es gibt keine Rettungskräfte in dem Camp. Und sie (Anm.: die Sicherheitskräfte) haben alle Zugänge gesperrt", erklärte Khaled Ahmed, ein 20-jähriger Student gegenüber Reuters. Und weiter: "Da drin sind Frauen und Kinder. Das ist eine Belagerung, ein Militärangriff auf ein ziviles Protestcamp." Demonstrant Murad Ahmed erklärte: "Wir können da drin nicht atmen und sie zerstören unsere Zelte."
Führungsmitglied der Muslimbrüder verhaftet
Die Räumungsaktion wurde von einer Welle an Festnahmen begleitet. Auch Mohammed al-Beltag, ein führendes Mitglied der Muslimbruderschaft und Organisator der Proteste, wurde abgeführt. Seine 17-jährige Tochter soll bei der Räumung des Protestlagers getötet worden sein.
Das Innenministerium ordnete zudem die Einstellung des Zugverkehrs von und nach Kairo an - offensichtlich um die Bewegungsfreiheit möglicher Protestgruppen einzuschränken. Auch rund um den internationalen Flughafen in Kairo wurden Straßensperren errichtet.
Trotz der Sicherheitsvorkehrungen überschlugen sich nach der Nachricht von der Räumung der Protestcamps die Ereignisse: In der Unruheprovinz Nord-Sinai stürmten bewaffnete Islamisten aus Protest mehrere Verwaltungsgebäude. Besetzt wurden unter anderem die Steuerbehörde und die Telefonzentrale in Al-Arish. Der Nachrichtensender Al Jazeera berichtete zudem, in Alexandria sei die Uferstraße von Islamisten blockiert worden.
--> Chronologie: Blutiger Machtkampf um Ägypten
Später attackierten radikale Islamisten in Oberägypten drei Kirchen. Das berichteten christliche Aktivisten in Kairo. Ihren Angaben zufolge legten die Angreifer Feuer vor den Gotteshäusern. Auch Todesopfer waren zu beklagen. In der Stadt Sohag sollen islamische Extremisten zudem die schwarze Flagge von Al-Kaida auf einer Kirche gehisst haben.
In der Innenstadt der Touristenstadt Luxor versammelten sich rund 300 Demonstranten, um gegen die Polizeigewalt zu protestieren. Sie zerstörten einen Polizeiwagen und brachen einem Polizisten ein Bein.
Auch in anderen Städten eskalierte die Gewalt. Besonders schlimm war die Lage in der Provinz Fayoum südlich von Kairo: Mindestens 17 Menschen starben dort bei Zusammenstößen zwischen Mursi-Anhängern und der Polizei. In Suez sprach ein Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums von fünf Toten. Auch aus Minya, Assiut und Alexandria wurden Zwischenfälle gemeldet.
Erdogan: "Ein Massaker"
Die Türkei übte scharfe Kritik an der Gewalt gegen Mursi-Anhänger: Premier Recep Tayyip Erdogan sprach von einem "Massaker", das der UN-Sicherheitsrat und die Muslimbruderschaft umgehend stoppen müssten. Denn das Schweigen der internationalen Gemeinschaft habe den Weg für das gewaltsame Vorgehen der ägyptischen Armee Mursi geebnet, kritisierte Erdogan.
Die EU rief die Konfliktparteien in Ägypten zur "maximalen Zurückhaltung" auf. Berichte über Tote und Verletzte nach Räumung der Protestcamps seien "extrem beunruhigend", sagte ein Sprecher der EU-Kommission. Der britische Außenminister William Hague verurteilte den Einsatz von Gewalt bei der Räumung von Protestlagern in Ägypten.
Mehr als 300 Tote seit Beginn der Proteste
Mursi-Anhänger protestieren seit Wochen auf den öffentlichen Plätzen für Mursis Wiedereinsetzung ins Amt. Der aus der Muslimbruderschaft stammende Mursi war am 3. Juli vom Militär entmachtet worden. Er sitzt an einem geheimen Ort in Untersuchungshaft. Seit seinem Sturz kamen mehr als 300 Menschen bei Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften ums Leben. Mursi war im Juni 2012 als erster frei gewählter Präsident Ägyptens an die Macht gekommen.
Außenmiminsterium rät von Reisen ab
Das Außenministerium in Wien rät auf seiner Homepage "aufgrund der aktuellen politischen Ereignisse von nicht dringend notwendigen Reisen nach Ägypten ab". Eine partielle Reisewarnung gelte "für Saharagebiete und für den Sinai abseits der Tourismusorte am Golf von Akaba". In allen anderen Landesteilen herrsche hohes Sicherheitsrisiko.
"In den Tourismusresorts am Golf von Akaba zwischen Sharm el Sheikh und Nuwaiba, sowie an der Westküste des Golfs von Suez, wie Ain Sukhna, Hurghada und Marsa Alam erscheint die Lage derzeit stabil", heißt es auf der Homepage weiter. Sie seien bisher von den Ausschreitungen nicht betroffen.
(Red./APA/dpa/AFP)