Aus Kairo wird ein Schlachtfeld

Kairo wird Schlachtfeld
Kairo wird Schlachtfeld(c) REUTERS (AMR ABDALLAH DALSH)
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Die blutigen Konfrontationen in Ägypten hören nicht auf: Die Regierung überlegt ein Verbot der Muslimbrüder, während diese landesweite Proteste ankündigen.

Seine Stimme überschlug sich bis an den Rand der Hysterie. „Diese Leute hissen die Flagge von al-Qaida im Herzen von Kairo und schießen mit Maschinengewehren auf Zivilisten. Wir appellieren an die westlichen Nationen, endlich zu begreifen, was hier vorgeht. Keine Regierung der Welt würde das inmitten ihrer Hauptstadt akzeptieren“, kreischte der Sprecher des ägyptischen Außenministeriums, Bader Abdel Atty, in die Mikrofone. Ägypten werde jede internationale Einmischung zurückweisen, schimpfte er. „Das ist die Revolution vom 30. Juni, und dies ist der Wille des Volkes.“

Ungeachtet solch martialischer Rhetorik – auch den politisch Verantwortlichen am Nil scheinen angesichts der blutigen und anarchischen Zustände im ganzen Land langsam die Nerven durchzugehen. Sicherheitskräfte schießen kaltblütig auf Demonstranten, Menschen gehen mit Pistolen, Macheten und Messern aufeinander los, Geschäfte stehen in Flammen. Reihen von Toten liegen in weiße Leinen gehüllt sogar in Moscheen aufgebahrt. Verletzte krümmen sich blutend auf den Gebetsteppichen. In Teilen der Hauptstadt haben bewaffnete Bürgerkomitees das Recht in die eigenen Hände genommen. Nächtliche Schusswechsel hallen selbst durch die gehobenen Wohnviertel von Kairo. Kriminelle nutzen das Sicherheitsvakuum: Im mittelägyptischen Beni Suef wurden an einem Tag sechs Banken ausgeraubt, in Minia das Museum geplündert.

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Ausgelöst durch das schlimmste Massaker in der modernen Geschichte Ägyptens – nach der Räumung eines Protestcamps der Muslimbrüder letzten Mittwoch starben 800 Menschen, weitere 4000 wurden verletzt – gerät die Lage Stunde für Stunde weiter außer Kontrolle. Samstagnacht lag eine Dunstwolke aus Brandgeruch und Tränengas über der Innenstadt, nachdem die zentrale Blutbank des Landes nahe dem Ramses-Platz durch die Kämpfe in Brand geraten war. Zwischen 19 und 6 Uhr herrscht absolute Ausgangssperre, nicht nur in Kairo, sondern auch in Alexandria und anderen Städten.

Unterdessen prüft die Übergangsregierung ein Verbot der 1928 gegründeten Muslimbruderschaft. Die Bruderschaft war bereits in der Zeit von Machthaber Hosni Mubarak offiziell verboten und wurde nach seinem Sturz vor über zwei Jahren neu aufgestellt.

Übernachten auf dem Flughafen.
Beim Anflug auf Kairo sind nirgendwo die gewohnten roten und weißen Endlosbänder von Autolichtern zu sehen. Hunderte Ankömmlinge müssen die Nacht auf dem Flughafen verbringen. Einzig Reisende, die vom Flughafen nach Hause oder ins Hotel wollen, ist die Ausfahrt erlaubt. Brücken und Hochstraßen, von denen aus Kasernen und andere Armeegebäude eingesehen werden können, sind gesperrt.

Unterwegs sind immer wieder festgenommene junge Männer zu sehen, die Hände auf dem Rücken gefesselt und bewacht von Soldaten. Nächtliche Bürgerwehren mit Knüppeln, Eisenstangen und Motorradhelmen haben sich an den Zufahrten zu ihren Wohnvierteln postiert und verwehren jedem fremden Wagen die Durchfahrt. Alle 500 bis 1000 Meter stehen Soldaten an Straßensperren. Erst vor der zentralen Auffahrt zur achtspurigen Stadtautobahn Richtung Nil stauen sich plötzlich Autos aus allen Himmelsrichtungen, von denen die meisten ohne Sondererlaubnis unterwegs sind. Der zuständige Offizier, ein baumlanger Kerl mit kahlgeschorenem Kopf, bleibt hart. Sie alle müssen umkehren, ihnen bleibt der Weg in die Innenstadt versperrt. Immer wieder läuft er wie ein Schiedsrichter ein Stück vor der laut protestierenden Menge davon.

„Ich wollte nicht im Auto schlafen und dachte, das klappt vielleicht“, meint genervt der Chauffeur eines Hochzeits-Mercedes, noch voll behangen mit den üblichen Blumengebinden aus Plastik. Die Trauung war vor Monaten geplant, kurz vor der Sperrstunde machte sich die Familie auf den Heimweg, Gäste von auswärts schliefen im Hotel. Das Brautkleid aus blütenweißem Tüll nimmt den gesamten Rücksitz ein. Zwei Fahrzeuge weiter stöhnt eine Frau vor Schmerzen, ihre Begleiterin fächert ihr Luft zu und schimpft gleichzeitig mit gestrecktem Zeigefinger in Richtung der Soldaten. Doch die rühren keine Miene hinter ihren Schilden und so müssen am Ende auch diese beiden umkehren.

Freitag des Zorns. Seit drei Tagen sollen nach dem Willen der Armeeführung die nächtlichen Straßen allein Polizei und Militär gehören, die sich am Freitag auf dem Gebiet um den Ramses-Platz herum bewaffnete Kämpfe mit Anhängern des abgesetzten Präsidenten Mohammed Mursi lieferten.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums starben allein an diesem „Freitag des Zorns“ über 170 Menschen, darunter der Enkel des Muslimbrüder-Gründers Hassan al-Banna sowie der Sohn des heutigen Chefs Mohamed Badie.

Auf dem Ramses-Platz steht auch der Hauptbahnhof, durch diesen Teil Kairos führt die wichtigste Verkehrsader der 25-Millionen-Metropole. Rund um den Platz befinden sich unter historischen Arkaden die Handwerksstraßen der Schreiner und Werkzeughändler. Am Samstagmorgen wurde das ganze Ausmaß der Zerstörung erst richtig sichtbar: aufgerissene Dächer, ausgebrannte und geplünderte Läden, die Gassen übersät mit Steinen, Glassplittern und geborstenen Knüppeln.

Über 1000 Islamisten wurden offiziellen Angaben zufolge festgenommen. Tausende Anwohner belagerten die Al-Fath-Moschee, um Rache zu nehmen an den Brandstiftern, die sie unter den 1000 im Inneren Eingeschlossenen vermuteten. Am Nachmittag nahmen Soldaten sogar die Minarettspitze unter Feuer, weil sie oben Bewaffnete vermuteten. Am Samstagnachmittag wurde die Moschee schließlich vollständig geräumt.

Der Führung der hierarchisch organisierten und disziplinierten Muslimbruderschaft gleiten die Zügel zunehmend aus der Hand. In den letzten Tagen sollen erstmals zu allem entschlossene Terroristen aus dem Sinai nach Kairo gekommen zu sein. Die Muslimbrüder riefen zu landesweiten Protesten auf.

Doch auch die von der Armee eingesetzte zivile Regierungsfassade zeigte erste Risse. Am Mittwoch trat das internationale Aushängeschild der Übergangsführung, Mohamed ElBaradei, zurück. Der renommierte Wirtschaftswissenschaftler und Vizepremier Ziad Bahaa-El-Din spielt ebenfalls mit dem Gedanken, andere Minister bleiben offenbar seit Tagen ihren Ämtern fern. Am Freitag warf der Sprecher der „Nationalen Rettungsfront“, Khaled Dawoud, das Handtuch. Er hatte im Namen des Oppositionsbündnisses in den letzten Wochen unermüdlich im Fernsehen die Absetzung Mursis gerechtfertigt.

Doch nicht alle wollen sich von dem eskalierenden Chaos einschüchtern und lähmen lassen. So nutzte ein Dutzend Jugendliche die autofreie Nacht auf der Nil-Corniche in Dokki für ein mitternächtliches Fußballmatch auf dem Asphalt. Über ihnen auf der verwaisten achtspurigen Nilbrücke turtelte ein junges Paar am Straßenrand in ihrem kleinen Auto, während auf der Gegenfahrbahn zwei junge Soldaten in Kampfanzügen und Sturmgewehr auf und ab schlendern „Wir haben nichts gesehen“, grinst der eine – dann winkt er lachend unser Taxi durch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.08.2013)

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