Wahl: „Belgrad hat den Kosovo verkauft“

(c) EPA (DJORDJE SAVIC)
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Erstmals sollen alle Kosovo-Serben an einem von Prishtina organisierten Urnengang teilnehmen. Das sorgt für viel Zündstoff.

Kosovska Mitrovica. Sie ist die Stadt der scheinbar endlosen Konflikte: Mit Dickicht überwucherte Schuttbarrikaden zeugen auf der Ibar-Brücke im Herzen des ethnisch geteilten Kosovska Mitrovica von den Verwerfungen der Vergangenheit – und frisch gehisste Serbien-Banner künden im Norden der selbst ernannten Frontstadt von neuem Streit. „100 Prozent Boykott“ fordern zahllose Aufkleber und Plakate zur Stimmverweigerung bei der Kommunalwahl am Sonntag auf. „Der Boykott ist die einzige Rettung für uns“, sagt im Parteibüro der nationalkonservativen DSS düster der hoch gewachsene Jusstudent Nemanja Jakšić: „Sonst gibt es hier in fünf Jahren keine Serben mehr.“

Es geht nur um ein paar tausend Stimmen, aber der Streit erhitzt hier im serbischen Teil der Stadt die Gemüter. Weniger der Ausgang als die Wahlbeteiligung ist es, die auch im serbischen Mutterland und im fernen Brüssel für Spannung sorgt. Erstmals sollen die Serben im bislang faktisch von Belgrad verwalteten Nordkosovo an einer von Prishtina organisierten Wahl teilnehmen – und damit die formale Eingliederung des Nordwestzipfels in die Strukturen des von Serbien nicht anerkannten Staates illustrieren. Geht die Wahl glatt über die Bühne, könnte Serbien bis Jänner mit dem Startschuss für den EU-Beitrittsmarathon rechnen. „Geht wählen – nicht für Prishtina, sondern für Euch und für uns“, fordert Serbiens Premier Ivica Dačić die Landsleute in der Exprovinz auf.

In den Serben-Enklaven im Süden, wo rund 60 Prozent der noch 100.000 Angehörigen der Minderheit leben, treffen die Wahlaufrufe auf offene Ohren: Umgeben von der albanischen Mehrheit haben sich die dortigen Serben zwangsläufig mit der Realität arrangiert. Doch nördlich des Ibar stoßen die Wahlappelle oft auf trotzige Ablehnung.

Belgrad habe den Kosovo der EU „verkauft“, klagt Boykottaktivist Nemanja bitter: „Aber das Regime in Belgrad wird ein Debakel erleben. Die Wahlbeteiligung wird im Norden keine zehn Prozent betragen.“ Wählen gehen will hingegen der schlaksige Verkäufer im Souvenirladen Sasa. Schließlich habe auch die orthodoxe Kirche den Urnengang empfohlen, sagt er achselzuckend: „Wir sollten uns nicht gegen Belgrad wenden. Wer sollte uns hier denn sonst noch helfen?“

„Wilder Westen“ im Norden des Kosovo

Der ungeklärte Mord an einem litauischen Eulex-Beamten und mehrere Sprengstoffanschläge auf Kandidaten werfen einen düsteren Schatten auf die Wahl. Persönlich habe er keine Angst, versichert der frühere Karatemeister und Staatssekretär Oliver Ivanović. Vor sechs Monaten wurde auf sein Büro ein Brandanschlag verübt, im September seine Frau in der eigenen Wohnung von einem Unbekannten attackiert: „Ich bin verletzlich, weil ich Familie habe.“

Leere Plastikhalterungen statt Kennzeichen zieren viele Autos in den Straßenschluchten von Kosovos Serben-Hochburg. Als rechtsfreier Raum hat sich Nord-Mitrovica einen zweifelhaften Namen verschafft. Auch handfeste Wirtschaftsinteressen heizten jahrelang den erbitterten Widerstand gegen die Normalisierung an.
Schmugglerbanden und Ex-Geheimdienstler fürchten um die gesetzlose Basis für ihre Geschäfte. Über „Wildwest“-Zustände klagt Bürgermeister-Kandidat Ivanović: Innerhalb eines Jahres seien in Nord-Mitrovica über zwei Dutzend Autos abgefackelt worden – meist aus politischen Gründen und ohne, dass die Täter gefasst worden seien: „Unsere Institutionen wirken wie kleine Katzen – und die Kriminellen wie fette Ratten: Die haben kein Problem damit, ein Kätzlein zu verschlingen.“

Den wegen seines Widerstands gegen die Wahl abgesetzten Ex-Bürgermeister Dragiša Vlašković plagen ganz andere Sorgen: „Was passiert nach der Wahl? Die Serben in Mitrovica haben immer zusammengehalten. Nun sind wir leider gespalten.“ Eine weitere Teilung in der Stadt am Ufer des Ibar.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2013)

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