Bajnai: „Ungarn gab demokratische Kernwerte auf“

Gordon Bajnai, Ungarn, Orbán
Gordon Bajnai, Ungarn, Orbán(c) REUTERS (LASZLO BALOGH)
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Für Oppositionsführer Gordon Bajnai ist Ungarn kein „normaler prosperierender europäischer Staat“ mehr. Er wirft Premier Orbán vor, aus Machthunger die Zukunft des Landes mit unvernünftiger Wirtschaftspolitik zu opfern.

Die Presse: Bei Ihrem Comeback vor einem Jahr galten Sie als großer Hoffnungsträger der ungarischen Opposition. Mittlerweile verloren Sie an Popularität. Was lief schief?

Gordon Bajnai: Wir haben uns in der Opposition zu lange mit uns selbst beschäftigt.

Ist dieser Prozess abgeschlossen? Es gibt Diskussionen, ob Ex-Premier Gyurcsány zum Oppositionsbündnis stoßen soll.

Der harte Kern des Bündnisses steht. Die zwei größten demokratischen Oppositionsparteien, die Sozialistische Partei und meine Bewegung, haben sich geeinigt. Zusammen kommen wir aktuellen Umfragen zufolge auf mehr als 30 Prozent der Stimmen. Wenn andere Parteien unser Ziele teilen, sind sie willkommen. Im Moment liegt Gyurcsánys Partei zwischen drei und vier Prozent.

Es ergäbe also keinen Sinn, eine kontroversielle Figur wie ihn ins Boot zu holen.

Zwischen ihm und unseren Bündnis ist zuletzt viel Vertrauen verloren gegangen

Mit 30 Prozent der Stimmen haben Sie doch keine realistische Chance, Viktor Orbáns Fidesz zu schlagen.

Die Unentschlossenen sind im Moment die größte Gruppe. Sie werden die Wahlen entscheiden. Ihnen müssen wir nicht erklären, warum die Orbán-Regierung versagt hat, denn das ist ziemlich klar. 57 Prozent der Ungarn wollen einen Wechsel, weil sie glauben, dass es ihnen schlechter geht als vor vier Jahren. Wir müssen klarmachen, wie wir aus Ungarn wieder ein normales prosperierendes europäisches Land machen.

Ist das im Moment denn nicht der Fall?

Ungarn ist im Moment kein normales prosperierendes europäisches Land. Es hat viele demokratische Kernwerte aufgegeben, was Medien und die Herrschaft des Rechts anlangt. Es befindet sich im Dauerclinch mit europäischen Kernwerten, die wir nach der Wende angestrebt haben.

Orbán hat auf Drängen der EU Konzessionen gemacht, auch bei der Verfassung. Ist diese Kritik nicht überzogen?

Nein. Jede seiner Konzessionen ist taktischer Natur. Und jeder Schritt, mit dem er sich von europäischen Werten entfernt, ist strategischer Natur.

Und was soll das Ziel der Strategie sein?

Orbáns Ziel ist es, die Macht über die Wahlen hinaus zu stabilisieren. Er will die Hände der nächsten Regierungen binden.

Wie erklären Sie Orbáns Erfolg?

Orbán opfert aus kurzfristigen populistischen Motiven die Zukunft Ungarns. Denken Sie an die Verstaatlichung der Pensionsfonds, an Spezialsteuern, die Auslandsinvestionen reduziert haben. Ohne Kurswechsel steuert Ungarn auf große Probleme zu. Ungarn muss berechenbar werden, zu vernünftiger Wirtschaftspolitik zurückkehren. Wir müssen den Investoren einen Pakt anbieten: Steuerreduktion gegen Investments.

Andererseits ist es dieser Regierung gelungen, das Defizit und die Staatsschulden zu reduzieren. Und es gibt sogar zarte Anzeichen wirtschaftlicher Erholung.

Das stimmt nicht. Diese Regierung hat die Staatsverschuldung nicht reduziert.

Laut Eurostat ist die Staatsverschuldung von 82,2 Prozent im Jahr 2010 auf 79,8 Prozent (2012) gesunken.

Wenn Sie die Verstaatlichung der Pensionsersparnisse in der Höhe von zehn Prozent des BIPs in Rechnung stellen, sollte die Verschuldung bei 70 Prozent liegen. Ungarns Wirtschaft ist 2012 um 1,7 Prozent geschrumpft. Heuer steuert das Land auf ein halbes Prozent Wachstum zu, allerdings von einem sehr geringen Niveau aus.

Immerhin.

Ja, aber Polen oder die Slowakei wachsen viel schneller. Ungarn stagniert seit Jahren. 500.000 Ungarn, fünf Prozent der Bevölkerung, haben auf der Suche nach Arbeit das Land verlassen.

Welchen Anteil hat das Versagen sozialistischer Regierungen an Orbáns Aufstieg?

In den acht Jahren, bevor 2010 Orbán ein zweites Mal an die Macht kam, haben Regierungen viele Fehler begangen. Es ist nicht genug, das Orbán-Regime loszuwerden. Wir müssen die Probleme loswerden, die zum Aufstieg Orbáns geführt haben.

Welche Probleme meinen Sie?

Erstens war die politische Elite sehr korrupt, was übrigens in den vergangenen Jahren noch schlimmer wurde. Zweitens müssen wir einen nationalen Konsens finden, wie wir mit der ungarischen Minderheit außerhalb des Landes umgehen. Drittens müssen die Akten der kommunistischen Geheimnisse offengelegt werden, was auch Orbán nicht gemacht hat. Viertens brauchen wir eine kluge Wirtschaftspolitik. Es war ein schwerer Fehler, die Schuldenexplosion zuzulassen.

Aber jetzt koalieren Sie mit jenen Sozialisten, die für die Fehler verantwortlich sind.

Die sozialistische Partei hat ein Koalitionsprogramm unterschrieben und darin garantiert, dass es diese Fehler nicht wiederholt.

Wäre es nicht günstiger, das Bündnis träte mit einem gemeinsamen Spitzenkandidat an – als klare Alternative zu Orbán?

Ich glaube nicht an ein dualistisches System, unser Gesellschaft ist zu komplex dafür. Mein persönlicher Sieg wäre es, wenn ich die Konsenspolitik in das Zentrum unserer Gesellschaft zurückbringen könnte. Wir müssen die Politik der Polarisierung ändern, die Ungarn in so große Schwierigkeiten gebracht hat. Aber dafür müssen wir die Wahlen gewinnen.

Selbst dann werden Sie die Verfassung nicht ändern können, die Orbán mit Zwei-drittelmehrheit verabschiedet hat.

Die Verfassung wird nicht von der Mehrheit des Volkes unterstützt. Deshalb gab es kein Referendum. Wir müssen Korrekturen vornehmen, bei Steuer-, Pensions- und Arbeitsmarktgesetzen, die in Verfassungsrang gehoben wurden, wieder zu einer 51-Prozent-Mehrheit zurückkehren. Im Konsens. Sonst können wir die Zukunft nicht bewältigen.

ZUR PERSON

Gordon Bajnai (geb. am 5. März 1968) war 2008 Wirtschaftsminister unter dem sozialistischen Premier Ferenc Gyurcsány und nach dessen Rücktritt von April 2009 bis zum Mai 2010 selbst ungarischer Ministerpräsident einer Übergangsregierung. Im Vorjahr gründete der Ex-Manager die Wahlplattform „Gemeinsam 2014“.

Bajnai diskutiert am Freitag ab 18.30 Uhr mit Christian Ultsch und János M. Kovács

im Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen (Spittelauer Lände 3).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.11.2013)

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