Kiew taktiert, Moskau jubelt, EU ist frustriert und Julia opfert sich

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Die Regierung in Kiew nennt ökonomische sowie taktische Motive für ihre Annäherung an Russland und den Verzicht auf das EU-Assoziierungsabkommen.

Wien/Kiew/Brüssel. Vollkommene Klarheit über den Kurswechsel der Ukraine konnte auch das vierstündige abendliche Gespräch nicht bringen. Bundespräsident Heinz Fischer hatte den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch zu einem zweiten Treffen gebeten, nachdem sich am früheren Nachmittag die Ereignisse überschlagen hatten. Janukowitsch, der bis gestern Nachmittag auf Arbeitsbesuch in Wien weilte, hatte bei der Pressekonferenz noch beschworen, die letzte Wegstrecke bis zum Abschluss des EU-Assoziierungsabkommens „trotz Hindernissen“ noch absolvieren zu wollen.

Und dann war der Satz Geschichte – und alles anders. Die Nachricht aus Kiew, dass sich die Regierung zur Suspendierung der Assoziierung entschlossen habe, dürfte nicht nur den österreichischen Bundespräsidenten ziemlich sprachlos gemacht haben.

„Enttäuschung über Europa“

Bei dem außerplanmäßigen Abendessen habe Janukowitsch Fischer die ukrainische Sichtweise darzulegen versucht, hieß es gestern aus der Präsidentschaftskanzlei. Demnach ließ Janukowitsch, „untermauert durch viele Beispiele, erkennen, dass die Ukraine von Europa in vielen Fällen enttäuscht wurde und dass die Europäische Union Sachverhalte falsch eingeschätzt habe“. Janukowitsch betonte, dass die europäische Perspektive für die Ukraine „langfristig wichtig und gewichtig“ sei. Fischer informierte mehrere europäische Amtskollegen über sein Marathontreffen. Am Freitag traf Janukowitsch auch noch mit Außenminister Spindelegger zusammen.

Die Kehrtwende einer jahrelang vorbereiteten Annäherung, die nächste Woche in der Unterzeichnung des politischen Abkommens samt Freihandelsregelung münden hätte sollen, versuchte in Kiew auch Premierminister Mykola Azarow dem Parlament auseinanderzusetzen. Der Premier begründete das Aus mit wirtschaftlichen Zwängen. „Die Entscheidung, das Abkommen mit der EU auszusetzen, war schwierig, aber die einzig mögliche angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftslage der Ukraine“, sagte Azarow. „Sie war ausschließlich von wirtschaftlichen Gründen diktiert und ist taktisch.“ Damit deutete der Ministerpräsident an, dass er Zeit für Verhandlungen mit Moskau brauchen könnte. Gleichzeitig mit dem Verhandlungsstopp mit der EU hatte die Regierung angekündigt, den „aktiven Dialog“ mit Russland und anderen Mitgliedern der von Moskau geführten Zollunion wieder aufzunehmen.

Russland ist für die Ukraine der wichtigste Gaslieferant und größter Handelspartner. Moskau hatte dem Nachbarn mit Wirtschaftssanktionen im Falle einer Assoziierung gedroht. Präsident Wladimir Putin warf der EU vor, die Ukraine erpresst zu haben und zeigte sich erfreut über Kiews Wahl.

Die Ukraine hat der Europäischen Union ein anderes Format für einen künftigen Dialog vorgeschlagen: eine Dreierkommission Ukraine-EU-Russland über Fragen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Es ist allerdings davon auszugehen, dass Brüssel der Idee eines Trilogs mit Skepsis begegnen wird. „Die Zukunft der Ukraine liegt in starken Beziehungen mit der EU“, hieß es aus der EU-Kommission.

Der Gipfel der Ostpartnerschaft in Vilnius soll trotz der ukrainischen Absage stattfinden. Dass dort das Abkommen zur Unterzeichnung kommt, ist allerdings nach Kiews Entscheid nicht mehr wahrscheinlich. Auf europäischer Ebene überwog die Enttäuschung über den Schritt. Die Kiewer Entscheidung könne zu „unumkehrbaren Verlusten in dem für die Ukraine unumgänglichen Modernisierungsprozess und der Reformen und Demokratisierung“ führen. „Die Verantwortung trägt ausschließlich die ukrainische Führung“, sagte der polnische Außenminister Sikorski. Die EU sei zu Kompromissen bereit gewesen.

Der Ex-EU-Parlamentspräsident Pat Cox und Polens Ex-Präsident Aleksander Kwaśniewski, die eine Ukraine-Beobachtermission des Europaparlaments bilden, drückten in einer Aussendung „tiefe Enttäuschung“ aus. Die Suspendierung würde wohl eine bedeutende Zeitspanne andauern und jegliche Annäherung komplizieren.

EU-Fahnen auf dem Maidan

In Kiew und anderen ukrainischen Städten gingen unterdessen am Freitag den zweiten Tag hunderte Menschen auf die Straße, um gegen das Regierungsdekret zu protestieren. Europäische Fahnen wurden auf dem Kiewer Maidan, dem Platz der Orangen Revolution von 2004, geschwenkt und Transparente mit Losungen wie „Wir sind Europa“ in die Höhe gehalten. Mit einer Stellungnahme aus dem Charkiwer Gefängnis ließ auch die inhaftierte Julia Timoschenko aufhorchen: Sie bat Präsident Janukowitsch, sich doch noch für die EU-Annäherung zu entscheiden. Sie wolle dafür auf ihre – von Brüssel als Bedingung für eine Unterschrift genannte – Ausreise zur Krankenbehandlung verzichten. (APA/Reuters/som/cu)

ZUR SACHE

Die Ukraine hat am Donnerstag überraschend das jahrelang

ausgehandelte Abkommen über eine Annäherung an die EU gestoppt. Der

Vertrag hätte kommende Woche in Vilnius unterzeichnet werden sollen.

Stattdessen schlug die Regierung in Kiew die Bildung einer Dreierkommission mit Russland und der EU zu Beratungen über Handelsfragen vor.

Russlands Präsident Wladimir Putin hatte der Ukraine zuvor mit Einschränkungen der für das Land äußerst wichtigen Handelsbeziehungen gedroht, sollte sich Kiew enger an

die EU binden. Den Europäern warf er vor, die Ukraine unter Druck zu setzen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2013)

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