Herfried Münkler: "China kann vor Kraft kaum laufen"

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Der Politologe Herfried Münkler über Große Koalitionen, graue Mäuse, die »Defensivkünstlerin« Merkel, die USA als Globo-Cop und Lektionen des Großen Krieges.

In Deutschland wie in Österreich haben wir gerade eine Parallelaktion erlebt: die Angelobung einer Großen Koalition. In Deutschland ein Ausnahmefall, in Österreich die Regel: Ist das demokratiepolitisch bedenklich?

Herfried Münkler: In Österreich ist die Große Koalition ja ein bisschen kleiner. Weniger bedenklich ist sicherlich der deutsche Fall: Beide Parteien begreifen das ja lediglich als eine Koalition auf Zeit. Eine Große Koalition hat sich letztlich dadurch zu rechtfertigen, dass sie sich große Ziele setzt. In Österreich hat das eine gewisse Tradition. Das führt irgendwann dazu, dass politische Immobilität zur Regel wird, weil sich beide Parteien darin einrichten, ihre politischen Klientelschaften zu versorgen.

Ist Österreich strukturkonservativer?

Vermutlich. Oder sagen wir es andersrum: Österreich kann sich mehr Strukturkonservativität leisten, weil es nicht so groß ist und bestimmte Anforderungen nicht da sind.

Hat Österreich an Wert und Bedeutung innerhalb Europas verloren?

Die Sonderrolle Österreichs war gebunden an den Kalten Krieg, an die Spaltung des Kontinents. Unter Kreisky kam dem Land eine herausgehobene Rolle innerhalb Europas zu. Diese Rolle ist in dem europäischen Integrationsprozess zwangsläufig verloren gegangen. Aber Österreich hat bei bestimmten Punkten innerhalb der EU eine gewisse Leitfunktion, das gilt vor allem für die europäische Südostpolitik, also die Balkan-Politik. Solange der Balkan eine tendenzielle Instabilität ausweist, wird sich an der Position Österreichs nichts ändern.

Früher gab es in Deutschland Politiker wie Brandt, Schmidt oder Kohl, in Österreich Kreisky, Vranitzky oder Mock. Jetzt regieren überall mehr oder weniger graue Mäuse. Wie erklären Sie sich das?

Ich würde nicht unbedingt sagen, dass Frau Merkel eine graue Maus ist. Sie überragt ihre Konkurrenten und Mitstreiter. Es hat insgesamt einen Bedeutungsverlust der Politik bei der Lösung sozioökonomischer Herausforderungen gegeben. Die Steuerungsfunktion der Politik ist in vieler Hinsicht geringer geworden. Im Prinzip machen Politik und Staat, was von der Wirtschaft und der Gesellschaft vorgegeben ist. Der relative Bedeutungsverlust des Politischen gegenüber dem Sozialen und Ökonomischen hat dazu geführt, dass Politiker erstens als grau erscheinen und zweitens nicht mehr die Gestaltungsmöglichkeiten haben, durch die sie charismatisch aufgeladen werden.

Haben die Parteien nicht auch ein Problem bei der Rekrutierung neuen Personals?

Die Attraktivität des Politischen ist für dynamische, junge Leute nicht mehr so groß. Jetzt sind Leute am Ruder, die relativ früh – mit 15, 16 Jahren – beschlossen haben, in der Politik Karriere zu machen. Sie machen das eine Zeitlang, bis sie – Pi mal Daumen – um die 50 herum keine Lust mehr haben und zwecks Kapitalisierung ihrer Kompetenzen und Kontakte in die Wirtschaft wechseln. Zurzeit spielen hauptsächlich Funktionäre eine Rolle in der Politik, Funktionäre für ihre eigene Karriere. Sie sehen zu, dass sie sich eher stromlinienförmig bewegen, damit sie anschließend eine ordentliche Anschlussverwendung bekommen.

Ist der Politikerjob einfach ein Managementjob geworden?

Es hat sich eine gewisse Mitte-Zentrierung durchgesetzt, die natürlich in vieler Hinsicht auch ihre Vorzüge hat. Wahlen werden in der Mitte gewonnen. Was zur Folge hat, dass die Möglichkeiten der Politik, sich Profile und Konturen zu verschaffen, geringer werden. Man muss schon sehr genau hinschauen, um manche Unterschiede zu erkennen. Dadurch werden Felder für Populismus frei. Insgesamt führte die Entwicklung zur Good Governance dazu, dass sich Unterschiede zwischen Verwaltung und Politik verringert haben. Der von Frau Merkel ins Spiel gebrachte Begriff der Alternativlosigkeit ist sozusagen das i-Tüpfelchen darauf, dass politische Fragen zu administrativen Fragen transformiert worden sind.

In Österreich ist der Populismus mindestens seit Haider en vogue. In Deutschland hat er eigentlich nie eine Chance gehabt.

Die Deutschen konnten nie erzählen, dass sie die ersten Opfer Hitlers gewesen sind. Es gibt daher eine sehr hohe Sensibilität in Gesellschaft und Medien gegenüber rechtspopulistischen Bewegungen. Es besteht aufgrund der deutschen Geschichte ein sehr großes Alarmismus- und Skandalisierungspotenzial. Das hat sich in Österreich so nie entwickelt. Oder sagen wir so: Die Österreicher wählen mit einem notorisch besseren Gewissen. Ihnen zuckt die Hand nicht zurück, wenn sie auf gewisse rechtspopulistische Formeln zugehen.

Politiker wie Strache – oder früher Haider – wären in Deutschland schon längst zum Rücktritt gezwungen worden.

Bestimmte Äußerungen und Skandale hätten in Deutschland zu einem ungeheuren Druck geführt – mit dem Ergebnis, dass diese Leute weg wären von der politischen Bühne.

Angela Merkel geht ins neunte Jahr ihrer Regierung. Sie könnte bis 2017 durchregieren. Was macht das Phänomen Merkel aus?

Sie ist eine Virtuosin des Fehlervermeidens, nicht der kühnen, visionären Entschlüsse. Um es in der Sprache des Militärischen zu formulieren: Sie ist eine Defensivkünstlerin. Sie hat zweimal große Entschlusskraft gezeigt: beim Sturz Helmut Kohls und bei der Energiewende. Sonst gilt für Angela Merkel, was Wolfgang Schäuble einmal als „Fahren auf Sicht“ charakterisiert hat. Das ist für eine bestimmte Zeit vielleicht das Angemessene, auf Dauer ist das aber zu wenig.

Ist für Sie die Zweiteilung der EU, die de facto ohnedies besteht, virulent?

Die wird notorisch ein großes Problem bleiben. Es ist ein Punkt, den man bei der Erweiterung Europas – sowohl im Osten als auch im Süden – hinsichtlich ihres Gewichts und ihrer Zähigkeit unterschätzt hat. Was den Norden und Süden betrifft, prallen da zwei Lebensauffassungen aufeinander. Das ist ein Mentalitätsproblem, das Europa strukturell begleiten wird. Der Gegensatz zwischen dem Norden und dem Süden ist gravierender als zwischen Osten und Westen. Es war zudem ein politischer Fehler, Rumänien und Bulgarien zu Mitgliedern zu ernennen. Dies führte dazu, dass die Akzeptanz Europas in der Bevölkerung nachgelassen hat.

Wenn Sie das Jahr 2013 Revue passieren lassen: Wer war für Sie der Mann der Jahres – Papst Franziskus oder Edward Snowden?

Ich bin Protestant. Ich betrachte die Veränderungen in der katholischen Kirche mit Interesse, aber ich würde ihnen nicht die Bedeutung zumessen. Ob Franziskus mehr ist als nur ein Medienereignis, muss man abwarten, bis die Machtkämpfe im Vatikan gekämpft sind. Insofern glaube ich, dass Snowden und das Hochkommen tiefgreifender Probleme innerhalb der atlantischen Allianz Gegensätze aufgezeigt haben, die uns in nächster Zeit immer wieder beschäftigen werden.

Hier deutet sich ein Problem an, das auch bereits im Irak-Krieg aufgetaucht ist. Die amerikanische Vorstellung von der Weltordnung ist doch eine grundlegend andere als jene vieler europäischer Länder. Da ist viel dramatisiert und hysterisiert worden, weil bei vielen der Eindruck entstand, dass die NSA alle Briefe lesen und Telefonate mithören kann. Es deutet sich aber an, dass die Europäer im höheren Maß in der Lage sein müssen, sicherheitspolitisch auf eigenen Füßen zu stehen.

Bleiben Brüche und Misstrauen zurück im transatlantischen Bündnis?

Sicher. Mit Putin wird ja nun ein bisschen das östliche Feindbild reaktiviert. Gäbe es Putin nicht, würden die Russen eine zurückhaltendere Politik betreiben, würden etwa nicht bisweilen im Gestus der alten Sowjetunion auftreten, wäre die Distanzierung gegenüber den USA sehr viel deutlicher.

Ist für Sie Obama der Absteiger des Jahres, Putin der Aufsteiger?

Im Zeitalter der Bürokratisierung und der Auflösung des Politischen ist die Sehnsucht nach Charismatikern dramatisch gewachsen. Der bemerkenswerte Aufstieg und jähe Fall unseres zeitweiligen Politstars Karl Theodor von und zu Guttenberg ist ein anderes Beispiel dafür. Obama ist mit Erwartungen überlastet worden. Ihm ist nicht das Schicksal zuteil geworden, wie weiland Kennedy, dass er früh in der Präsidentschaft ermordet wird, und er nicht zeigen musste, ob er es auch in den Mühen der Ebene hinkriegt. Obama erscheint als schwacher Präsident, dem wenig gelingt. Wenn man es aber an einem nüchternen Maßstab misst, ist er vermutlich einer der erfolgreichsten US-Präsidenten. Er steht gar nicht so schlecht da. Nur der Friedensnobelpreis zu Beginn war quasi ein politisches Verhängnis für ihn.

Wer wird ins Vakuum treten, wenn sich die USA als Weltsheriff, wie sich abzeichnet, in die zweite Reihe zurückziehen?

Das Problem ist, dass niemand die Aufgabe der USA als Globo-Cop übernehmen kann und will. Frieden im globalen Maßstab leidet unter dem bekannten Trittbrettfahrer-Phänomen: dass gern alle die Segnungen eines weltweiten Friedens einstreichen wollen, aber keiner die Anstrengungen, diesen auch aufrechtzuerhalten oder durchzusetzen, auf sich nimmt. Diese Rolle ist den USA nach 1990 zugefallen. Sie sind auch aufgrund unkluger Politik überfordert – wirtschaftlich, aber auch mentalitätsmäßig. Dazu kommt die Selbstblockade des UN-Sicherheitsrats, der von seiner Zusammensetzung ein merkwürdig antiquiertes Instrument ist. Wenn man es ganz pessimistisch sieht, ähnelt die Lage dem Niedergang des British Empire Ende des 19. Jahrhunderts als Globo-Cop. Die USA werden in deutlich reduziertem Umfang als Bewahrer gewisser Regeln auftreten – unter anderem, dass der Zugriff auf strategische Ressourcen wie Öl nur gegen Zahlung zulässig ist und nicht durch Eroberung mit Panzern –, also als Hüter des Status quo der kapitalistischen Weltordnung. Bei der Durchsetzung werden die USA jedoch sehr viel zurückhaltender agieren. Für uns Europäer heißt das, dass wir uns um unsere Ränder sehr viel mehr und vor allein kümmern müssen.

Welche Auswirkungen hat die neuerliche Konzentration der USA auf den Pazifikraum und das zunehmende Konkurrenzverhältnis zu China auf die geopolitische Lage?

Die Chinesen haben keinerlei Lust, weltpolitische Verantwortung zu übernehmen. Sie wollen nicht die Kosten und Lasten tragen. Die Chinesen sind nicht unbedingt in einer komfortablen Situation. Abgesehen von den inneren Problemen, etwa der bisherigen Ein-Kind-Politik, sind die Chinesen international betrachtet ein Akteur, der vor Kraft kaum laufen kann, der einen gewaltigen ökonomischen Aufstieg erfahren hat, der mit dem des kaiserlichen Deutschlands Ende des 19. Jahrhunderts vergleichbar ist. Das löst bei den Nachbarn große Besorgnis aus und die Neigung, antihegemoniale Bündnisse gegen China zu bilden. Die Chinesen wiederum haben das Interesse, diesen Einkreisungsring hie und da aufzusprengen. Infolge des Aufstiegs von einer Agrarmacht unter Mao zu einer Industriemacht ist China von den Rohstoffen aus Übersee abhängig geworden. Im Gegensatz zu den USA ist China allerdings keine Seemacht. Es ist nun dabei – wie es Admiral Alfred von Tirpitz für die Deutschen im Hinblick auf die Briten formuliert hat –, eine „Risikoflotte“ für die Amerikaner aufzubauen. Das ist eine sehr bedrohliche Entwicklung. Die Inseln im Ostchinesischen Meer, um die der Streit mit Japan entbrannt ist, sind gewissermaßen das Analogon zu dem, was 1914 und davor der Balkan war.

Genau darüber, über den Ersten Weltkrieg, haben Sie ein Buch geschrieben, „Der Große Krieg“. Anlässlich des 100-Jahr-Gedenkens: Welche Lektionen sind heute relevant?

Wenn wir auf Europa blicken, wenn Europa durch die Union zu einer Friedensordnung gefunden hat und die Währung ein Garant dafür ist, ist der Referenzpunkt eigentlich immer der Erste Weltkrieg. Dieser Krieg ist in vieler Hinsicht das Warnzeichen, im 21. Jahrhundert nicht das zu wiederholen, was in Europa die Ursache für das Verhängnis des 20. Jahrhunderts gewesen ist. Dazu gehört neben der fatalen Bündniskonstellation die Eskalation des Misstrauens. Das Nichtzusammenspiel zwischen Berlin und London ließ die blanken Bündnismechanismen samt Blankoschecks (die Franzosen für die Russen, die Russen für die Serben, die Deutschen für die Donaumonarchie) greifen.

Entscheidend ist, institutionelle Arrangements zu entwickeln, die dieser Eskalation des Misstrauens entgegenstehen. Dass das nicht selbstverständlich ist, haben wir bei den jugoslawischen Zerfallskriegen der 1990er-Jahre gesehen, als nicht nur die Konfliktlinie mit den Russen da war, die ihren alten Protegé Serbien wieder unter die Arme greifen wollten, sondern auch plötzlich in Gestalt eines gesteigerten Misstrauens zwischen Deutschen und Österreicher auf der einen und den Franzosen auf der anderen Seite. Mit der Triple-Struktur von Nato, EU und OSZE hat man eigentlich solche Arrangements. Man darf aber nicht zu leichtfertig sein, man muss wissen, was diese Konfliktregion vom mittleren Balkan bis in den Kaukasus für Europa bedeuten kann. In allen Fällen kommt es darauf an, dass die Europäer gemeinsam agieren, sodass die Spaltungslinien der Peripherie nicht ins Zentrum übergreifen.

Wäre es 1914 möglich gewesen, das Ganze zu lokalisieren – mittels einer Friedenskonferenz, bei der die Russen dafür sorgen, dass Serbien nicht von der Landkarte verschwindet –, wäre alles ein harmloser Vorgang gewesen.

Dann wäre der Welt unendlich viel erspart geblieben, unter anderem Hitler.

Nicht nur der, auch Lenin und Stalin.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.12.2013)

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