Großbritannien: Osbornes „unangenehme Wahrheiten“

(c) REUTERS (TOBY MELVILLE)
  • Drucken

Die Regierungspartei der Tories verliert in Umfragen immer mehr Wähler. Schatzkanzler Osborne kündigt neue Kürzungen an und will mit wirtschaftlicher Rosskur punkten.

London. Den Briten stehen weiterhin harte Zeiten bevor. Ungeachtet einer unerwartet dynamischen Erholung der Wirtschaft, die in diesem Jahr nach Prognosen um rund 2,5 Prozent wachsen dürfte, kündigte Schatzkanzler George Osborne gestern, Montag, in Birmingham weitere Einsparungen im Staatshaushalt um 25 Milliarden Pfund an. „Wir müssen weitere Kürzungen vornehmen, und dafür wird 2014 das Jahr der unangenehmen Wahrheiten werden“, sagte der Schatzkanzler.

Betroffen sollen in erster Linie die Sozialausgaben sein. Mit 112,5 Mrd. Pfund (135,2 Mrd. Euro) machen sie 16 Prozent der jährlichen Staatsausgaben aus und sind nach Pensionen und Gesundheit der drittgrößte Ausgabenposten. Für 2013 hat die konservativ-liberale Koalition Einnahmen von 612 Mrd. Pfund und Ausgaben von 720 Mrd. Pfund geplant.

EU-Feind Farage punktet

Ungeachtet seiner Selbstdarstellung als gnadenloser Ausgabenkürzer hat Osborne seit Amtsantritt seiner Regierung im Mai 2010 in keinem einzigen Quartal einen Überschuss erzielt. Steuererhöhungen lehnt er aus ideologischen Gründen ab, Senkungen stellte er erstmals in unbestimmter Zukunft in Aussicht. „Unsere Aufgabe ist noch nicht vollendet“, sagte er gestern. Als Folge wachsen die Staatsschulden weiter. Sie erreichten im ersten Quartal 2013 mit 1,3 Billionen Pfund die Höhe von 91 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Osborne nimmt für sich in Anspruch, die Staatsausgaben um 120 Mrd. Pfund verringert zu haben.

So sehr der britische Schatzkanzler es liebt, mit Zahlen zu jonglieren, so sehr ist er auch politischer Stratege. Mit den neuen Sparplänen will er die oppositionelle Labour Party zwingen, Farbe zu bekennen. Entweder Labour verpflichtet sich zur Beibehaltung des gegenwärtigen Kurses, oder die Partei wird im kommenden Wahlkampf als verantwortungslose Verschwenderin gebrandmarkt. Beides wird die derzeit in den Umfragen in Führung liegende Opposition an Zustimmung kosten.

Dieselben Umfragen zeigen für die regierenden Konservativen ein düsteres Bild. Nach einer aktuellen Untersuchung haben sie 37 Prozent ihrer Wähler von 2010 verloren. Premier David Cameron erklärte dennoch, die Wahl 2015 sei „gewinnbar“. Ein Pluspunkt: Mit 57 zu 43 Prozent will die Bevölkerung die Wirtschaft eindeutig lieber unter der Führung der Konservativen als von Labour sehen. Zugleich sagten 54 Prozent, sie erwarteten keine Verbesserung ihrer persönlichen Situation von dem einsetzenden Wirtschaftsaufschwung.

Die Hälfte der Tory-Abtrünnigen will zu der Europa-feindlichen United Kingdom Independence Party (UKIP) des EU-Abgeordneten Nigel Farage überlaufen. UKIP verlangt den sofortigen Austritt Großbritanniens aus der EU und ist vehement gegen die Öffnung des Arbeitsmarkts für Rumänen und Bulgaren zu Jahresbeginn. In einer neuen Umfrage erreicht die Zahl der Befürworter eines EU-Austritts einen neuen Höchstwert. Premier Cameron will im Fall eines Wahlsiegs die Briten bis 2017 in einer Volksabstimmung über den Verbleib in der EU entscheiden lassen.

„Rivers of Blood“ -Rede

Farage erklärte am Wochenende, „das Grundprinzip“ der berüchtigten „Rivers of Blood“-Rede des konservativen Abgeordneten Enoch Powell aus dem Jahr 1968 sei „richtig gewesen“: „Hätten wir damals auf ihn gehört, hätten wir heute bessere Rassenbeziehungen.“ Nach seiner Rede, in der er sagte, dass sich „die einheimische Bevölkerung als Fremde im eigenen Land wiederfand“, wurde Powell ins politische Abseits gestellt.

Dort würden die meisten Londoner Politiker am liebsten auch den schottischen First Minister, Alex Salmond, sehen. Im September entscheiden die Schotten in einer Volksabstimmung über ihren Verbleib im Vereinigten Königreich, und Salmond verlangt darüber eine TV-Debatte mit Premier Cameron. „Es scheint, dass Sie die Bedingungen der Debatte über unsere Zukunft bestimmen wollen, ohne sich der demokratischen Verantwortung einer offenen Debatte zu stellen. Das ist inakzeptabel“, schrieb Salmond zu Neujahr an Cameron. Auf die Tatsache, dass die Anhänger der Unabhängigkeit hartnäckig bei 30 Prozent feststecken, reagieren die Nationalisten mit verschärften Angriffen auf die „Tory-dominierte Londoner Regierung“. Auch hier wird 2014 wohl zu einem „Jahr der unangenehmen Wahrheiten“ werden.

Auf einen Blick

Schatzkanzler George Osborne kündigte Einsparungen im Staatshaushalt um 25 Milliarden Pfund an. Betroffen sollen vor allem Sozialausgaben sein. Seit dem Amtsantritt der Regierung im Mai 2010 hat Osborne in keinem einzigen Quartal einen Überschuss erzielt. Steuererhöhungen lehnt er ab. Als Folge wachsen die Staatsschulden und erreichten im ersten Quartal 2013 mit 1,3 Billionen Pfund die Höhe von 91 Prozent des BIPs.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.01.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.