Ausnahmezustand in Kiew: Mindestens neun Tote

An anti-government protester throws a Molotov cocktail in Kiev
An anti-government protester throws a Molotov cocktail in KievREUTERS
  • Drucken

Die Ukraine erlebt die schlimmsten Ausschreitungen seit Beginn der Massenunruhen. Die nächste Gewaltwelle könnte unmittelbar bevorstehen.

Wien/Kiew. In der Ukraine wächst die Angst vor einem blutigen Finale der politischen Krise auf den Straßen der Hauptstadt. Am Dienstag kam es in Kiew zu den schwersten Zusammenstößen seit Mitte Jänner. Nach den Straßenschlachten befürchteten die Regierungsgegner, dass das Protestlager auf dem Unabhängigkeitsplatz Maidan von der Polizei gestürmt werden könnte. Tausende Bürger versammelten sich auf dem Maidan, um sich einem Sturm entgegenzustellen. Die Opposition mahnte die Demonstranten zu friedlichen Protesten. Nach den Ausschreitungen wurde für Mittwoch ein Treffen zwischen Opposition und Präsident Viktor Janukowitsch angesetzt.

Nach offiziellen Angaben wurden mindestens neun Menschen getötet - sieben Zivilisten und zwei Sicherheitskräfte. Die Ereignisse hatten sich überschlagen, nachdem Demonstranten versucht hatten, zum Parlament vorzudringen und von der Polizei gestoppt worden waren. Anlass für die gewalttätigen Zusammenstöße waren abermals die Ereignisse im Abgeordnetenhaus.

Am Dienstagvormittag sollte im Parlament eine Debatte über die Verfassungsreform beginnen. Doch ein von der Opposition eingebrachter Gesetzesvorschlag ist nicht angenommen worden. Parlamentssprecher Wladimir Rybak hat sich geweigert, den Punkt auf die Tagesordnung zu setzen.

Rauchwolken über Zentrum

Die Opposition will zur Lösung der politischen Krise die Machtfülle von Präsident Viktor Janukowitsch begrenzen und die Verfassung von 2004 wieder einführen - ein Vorschlag, der in den vergangenen Wochen auch vonseiten internationaler Organisationen begrüßt worden ist. Am Dienstag marschierten 20.000 Demonstranten in Richtung Parlament. Der Protestzug war zunächst friedlich - doch es blieb nicht dabei. Später eskalierte die Lage - es waren dramatische Szenen: Über dem Zentrum von Kiew stiegen dichte Rauchwolken auf.

Demonstranten und die Polizeisondereinheit „Berkut" lieferten sich Straßenschlachten in der Nähe des Parlaments. In der Institutska-Straße schleuderten Regierungsgegner Molotowcocktails und Pflastersteine in Richtung Polizei, sie riefen „Faschisten" und „Weg mit den Banditen". Die Polizei feuerte Tränengasgranaten und Gummigeschosse auf die Demonstranten. Auf den Dächern waren Scharfschützen positioniert, die offenbar ebenfalls in die Menge der Protestierenden schossen. Verletzte lagen am Boden und wurden notdürftig von Ärzten versorgt.

Gegen Mittag setzten Demonstranten das Büro der regierenden Partei der Regionen in Brand. Der „Rechte Sektor", eine lose Vereinigung von rechtsradikalen Gruppen, rief seine Anhänger dazu auf, mit Schusswaffen ins Zentrum zu kommen. Die U-Bahn schloss nach 15 Uhr ihren Betrieb. Die blutigen Zusammenstöße forderten zahlreiche Verletzte auf beiden Seiten. Dutzende Polizisten wurden von Molotowcocktails verletzt, fünf sollen Schussverletzungen davongetragen haben. Drei Regierungsgegner seien von Schüssen getroffen worden, sagte der Chef des Ärzteteams, Oleg Mussiji. Später wurden zwei weitere Leichen gefunden. Zudem wurden nach Angaben der Ärzte mindestens 150 Demonstranten verletzt.

Waffen im Protestlager

Erst am Nachmittag gelang es der Polizei, die aufgebrachte Menge vom Parlament abzudrängen. Zahlreiche Demonstranten wurden verhaftet. Die Aktivisten befürchteten, dass das Protestlager auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz geräumt werden könnte. Dort versammelten sich die Demonstranten nach den Ausschreitungen. Sollte die Polizei versuchen, das Lager einzunehmen, würde das nicht ohne Blutvergießen ablaufen. Die Zelte und Hütten der Demonstranten sind über die Wochen befestigt worden; auch dürften die Demonstranten über scharfe Munition und Brandsätze verfügen.
Das Innenministerium und der Geheimdienst haben den Oppositionsführern bis zum frühen Abend Zeit gegeben, „für Ordnung zu sorgen". Sonst sei mit entschlossenen Maßnahmen zu rechnen. Ex-Innenminister Jurij Lutsenko rief die Polizisten vor den Barrikaden dazu auf, ihre „Hände nicht mit Blut zu beflecken".

Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, zeigte sich „schockiert" über die Ereignisse. Er rief die Parteien zum Dialog auf. Moskau gab unterdessen westlichen Politikern die Schuld für die neue Gewalt in Kiew. Der Westen habe „die Augen vor den aggressiven Handlungen radikaler Kräfte in der Ukraine verschlossen". Russland hat wiederholt Besuche ranghoher Politiker aus der EU und den USA als Einmischung in deren innere Angelegenheiten kritisiert. Moskau hat am Montag der Kiewer Führung zugesagt, weitere Hilfsgelder in der Höhe von zwei Milliarden Dollar zu überweisen.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.