Neuwahlen, Verfassungreform: Der Kompromiss von Kiew

Vitali Klitschko und Präsident Janukowitsch einigten sich auf mehrere Kompromiss-Punkte.
Vitali Klitschko und Präsident Janukowitsch einigten sich auf mehrere Kompromiss-Punkte.(c) APA/EPA/SERGEY DOLZHENKO
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Opposition und Präsident Janukowitsch einigen sich auf Verfassungsreform und Neuwahlen. Das Parlament will nun auch Exministerpräsidentin Timoschenko freilassen.

Um 12.47 Uhr erschien eine wortkarge Mitteilung auf der Website des ukrainischen Präsidenten: „Ich verkünde, dass es vorgezogene Neuwahlen geben wird.“ Doch der Kompromiss, den Präsident Janukowitsch und die Oppositionspolitiker Vitali Klitschko, Arsenij Jazenjuk und Oleg Tjagnibok gestern unterzeichnet haben, umfasst mehr Punkte: Innerhalb von zehn Tagen soll ein „Kabinett des nationalen Vertrauens“ gebildet werden. Bis September soll das Parlament eine Verfassungsreform ausarbeiten. Schon gestern wurde die Verfassung von 2004 in Kraft gesetzt – de facto eine Begrenzung der Macht des Präsidenten. Bis Dezember sollen vorgezogene Präsidentenwahlen stattfinden.

Die Demonstranten waren vorerst gegen den Kompromiss. Schließlich stimmten sie zu. Aber die Skepsis, ob man sich auf die Versprechen verlassen kann, ist groß. Die Aktivisten fragen sich, ob sich die dreimonatige Besetzung des Maidan, der Tod der vielen „Helden“ bezahlt gemacht hat angesichts einer Präsidentenwahl, die nur drei Monate vor dem regulären Termin stattfinden soll. Man befürchtet, einmal mehr hingehalten zu werden, wie Ukraine-Kenner Winfried Schneider-Deters der „Presse“ erklärt: „Die Menschen glauben Janukowitsch nichts mehr.“

Ob sich die Aktivisten von den Straßen zurückziehen werden, ist unklar. Zunächst entspannte sich die Lage in Kiew aber. Laut Regierungsangaben wurden 1100 Angehörige der Sicherheitskräfte – die Spezialeinheit Berkut und Innenministeriumstruppen – aus dem Regierungsviertel abgezogen. Auf den Straßenzügen, wo sich in den Tagen zuvor bürgerkriegsähnliche Szenen abgespielt hatten, waren erste Souvenirjäger unterwegs.

Timoschenko soll rehabilitiert werden

Die Einigung kam nach einer Eskalation der Gewalt seit Dienstag, die mindestens 77 Tote forderte. Da hatte eine verhinderte Parlamentsdebatte über eben jene Verfassungsreform zu den schwersten Ausschreitungen seit Beginn der Krise Ende November geführt.
Präsident Janukowitsch wollte zunächst nicht einlenken. Umdenken ließen ihn letztlich wohl die Auflösungserscheinungen in den Sicherheitskräften und Reihen seiner Partei der Regionen.

Der Parlamentsfraktion der Regierungspartei kamen am Freitagnachmittag dramatisch die Mitglieder abhanden. Es habe sich eine Gruppe von Abgeordneten „mit eigener Meinung“ gebildet, wie es der Millionär und Abgeordnete Sergej Tigipko ausdrückte. Tigipko, der zuletzt Janukowitsch wegen dessen kompromissloser Haltung kritisiert hatte, könnte auf ein Amt in der neuen Regierung hoffen – wie andere, sich nun „progressiv“ gebende „Regionale“ auch. Offiziell verurteilen sie die Gewalt. Doch die Angst, die politische – und damit auch die ökonomische – Macht zu verlieren, dürfte das Hauptmotiv ihrer Distanzierung sein. Das Parlament, in dem die Opposition mithilfe der Überläufer nun die Mehrheit hat, entließ Innenminister Vitali Sachartschenko.

Auch die inhaftierte Ex-Ministerpräsidentin Julia Timschenko soll freikommen: Ein entsprechendes Gesetz wurde angenommen. Es tritt aber erst mit einer Unterschrift des Präsidenten in Kraft.

Doch es gibt auch Eiserne, die nach wie vor hinter Viktor Janukowitsch stehen: Der Chef der Parlamentsfraktion, Oleksandr Ewremow, die Gebrüder Kljujew und Übergangspremier Sergej Arbusow gehören dazu. „Aus ihrer Sicht ist die Sache noch nicht verloren“, sagt Schneider-Deters. Kritiker des Präsidenten befürchten, dass das Regierungslager die Zeit dazu nutzt, um wieder Kraft zu schöpfen. Diese Gefahr ist gegeben: In der Bürgerbewegung und Opposition könnten sich bis Herbst Konkurrenzkämpfe entspinnen, und mit Zwietracht lässt sich keine Wahl gewinnen. Denn noch ist ein Wahlgesetz in Kraft, das die Regierungspartei bevorzugt.

Pfiffe für Oppositionsführer

Mit Pfiffen und Buhrufen haben Zehntausende ukrainische Regierungsgegner in Kiew die Oppositionsführer nach der Einigung empfangen. Der Chef der radikalen Gruppe Rechter Sektor, Dmitri Jarosch, kündigte an, nicht die Waffen niederzulegen, bevor der Staatschef zurücktrete. Andere Redner drohten damit, die Präsidialverwaltung zu stürmen. Der Opposition um Vitali Klitschko warfen sie "Verrat" vor. Die Menge auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) forderte in Sprechchören den Kopf des Präsidenten: "Tod dem Knastbruder!" Janukowitsch war als Jugendlicher wegen Raubüberfalls in Haft gewesen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.02.2014)

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