Driften die Krim und der Osten der Ukraine ab?

THEMENBILD: PROTESTE IN DER UKRAINE
THEMENBILD: PROTESTE IN DER UKRAINEAPA/HELMUT FOHRINGER
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Zerreißprobe für die Ukraine: Die Hochburgen von Janukowitschs "Partei der Regionen" im Osten und Süden des Landes sind nicht bereit, die Umwälzungen in der Hauptstadt Kiew akzeptieren.

Charkiw hat sich erhoben? Ich kann meinen Augen nicht glauben!“, frohlockte Freitagabend der Lemberger Publizist Wasyl Rasewytsch. Kurz zuvor war ein Video aus der zweitgrößten Stadt der Ukraine auf YouTube aufgetaucht: Wenige tausend Demonstranten waren durch die zentrale Sumska-Straße gezogen und hatten aus vollen Kehlen „Weg mit dem Verbrecher!“ skandiert. Zwar war auch in Charkiw in den vergangenen Wochen jeden Abend gegen Präsident Viktor Janukowitsch demonstriert worden – verglichen mit den zentralen und westlichen Regionen des Landes hatten sich diese Kundgebungen jedoch als äußerst lau erwiesen. Mehr als 200 Bürger hatten sich auf dem Euromaidan der Anderthalb-Millionen-Einwohner-Metropole üblicherweise nicht versammelt.

Mit dem Ende des Blutvergießens in der Hauptstadt rückt der Fokus nun auf jene Regionen des Landes, in denen sich die Gegner von Viktor Janukowitsch bisher nicht durchsetzen konnten. Die ostukrainische Metropole Charkiw avancierte gestern zu einem weiteren Epizentrum der ukrainischen Politik: Die hier einsitzende Julia Timoschenko wurde freigelassen. Und auch Präsident Viktor Janukowitsch hielt sich Medienberichten zufolge in der Stadt auf.


Ukrainische Front. Schockwellen sandte aber vor allem die „Ukrainische Front“ aus, die sich am Samstag zum zweiten Mal im Sportpalast von Charkiw traf. Diese „Front“ ist ein Bündnis der politischen Eliten aus dem Osten und Süden des Landes. Der Charkiwer Gouverneur und „Front“-Chef Michailo Dobkin hatte dieser Tage vorgeschlagen, die bislang zentralistische Ukraine in einen föderalen Staat zu verwandeln. Die Opposition, die mit Überläufern aus Janukowitschs „Partei der Regionen“ am Samstag in der Kiewer Verchovna Rada über eine satte Mehrheit verfügte, erachtet dies als inakzeptabel und als ersten Schritt zu einer Teilung des Landes.

Jene Resolution, die die „Ukrainische Front“ am Samstag beschlossen hat, dürfte diese Befürchtungen massiv verstärken: Bis zur Herstellung einer verfassungsgemäßen Ordnung in Kiew sollten die Lokalparlamente die Macht von zentralstaatlichen Institutionen übernehmen, hieß es. So dies umgesetzt würde, machen der Osten und der Süden des Landes unter anderen Vorzeichen genau das, was in den vergangenen Tagen etwa im Westen der Ukraine passiert war. Dort haben zuletzt Gegner Janukowitschs zentralstaatliche Amtsgebäude besetzt.


Sowjetnostalgie. Für die weiteren Entwicklungen im Osten und Süden sehen die Ausgangsbedingungen sehr unterschiedlich aus. Der bekannte Charkiwer Schriftsteller und Euromaidan-Aktivist Serhij Schadan sprach am Samstag von (unbestätigten) 30.000 bis 40.000 Demonstranten, die sich unweit des Tagungsortes der „Ukrainischen Front“ versammelt hatten. Andere Augenzeugen sahen deutlich weniger Teilnehmer, dennoch handelte es sich um die größte regierungskritische Kundgebung der letzten Monate. Das Potenzial für weitere Proteste ist vorhanden. Trotz ihrer aktuellen Passivität sehen viele Bewohner Charkiws ihre Regierenden sowie den Präsident Janukowitsch äußerst kritisch.

Taxifahrer sprechen hier eine deutliche Sprache. Das mehrheitlich russischsprachige Charkiw macht aber auch deutlich, dass der Protest insbesondere kulturell und generationsspezifisch ist. Auf der einen Seite versuchen führende Vertreter der „Ukrainischen Front“ propagandistisch vor allem bei der älteren Generation zu punkten: Neben dem Sieg der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg ist die Polemik gegen sexuelle Minderheiten, ganz nach russischen Vorbildern, ein wichtiges Sujet des mächtigen Charkiwer Bürgermeisters.


Neuer Patriotismus. Auf der anderen politischen Seite wird neuerdings vor allem ein ukrainischer Patriotismus betont. Die Sprachenfrage spielt in Charkiw nur eine äußerst nachrangige Rolle. In ihren Auftritten radebrechen Redner mit russischer Muttersprache auf dem lokalen Euromaidan bisweilen auf Ukrainisch. Und als Literat Serhij Schadan, der selbst auf Ukrainisch schreibt, kürzlich sein neuestes Buch in seiner Heimatstadt präsentierte, war seine Lesung völlig ausverkauft. Unter sich sprachen seine vorwiegend jüngeren Fans aber vor allem Russisch, kulturell unterscheidet sich diese neue Generation nicht maßgeblich von ihren Altersgenossen im Westen oder im Zentrum der Ukraine, bei ihren Eltern und Großeltern sind diese Unterschiede noch viel deutlicher.

Serhij Schadan meinte zuletzt, dass die Protestbewegung dringend den Dialog mit dem mehrheitlich russischsprachigen Osten und Süden des Landes suchen sollte. Diese Landesteile sind auf dem Kiewer Maidan nur sporadisch angesprochen worden. „Glaubt nicht, dass das mehrheitlich russischsprachige Kiew von wild gewordenen ukrainischen Hardcore-Nationalisten erobert worden wäre“, hat sich der ehemalige Innenminister Jurij Luzenko vor zwei Wochen an den Osten und Süden gewandt.

Genau dieses Bild mordender Anhänger des Nationalistenführers Stepan Bandera (1909–1959) wird von zahlreichen Medien im Osten und Süden der Ukraine kommuniziert. Und selbst die russische Boulevardzeitung „Komsolskaja Prawda“ coverte am Freitag mit der Bedrohung durch „Bandera-Anhänger“, die es nunmehr gar auf Moskau abgesehen hätten.

Besonderen Erfolg hat dieses Bild auf der Krim, die historisch bedingt besonders stark nach Russland ausgerichtet ist. Erst vor genau 60 Jahren ist die Halbinsel vom russischen an den ukrainischen Teil der Sowjetunion überschrieben worden. Neben Krimtataren, die sich als ukrainische Patrioten positionieren, sind ethnische Russen hier in der Mehrheit. In den vergangenen Tagen hat auf der Krim das Gerücht kursiert, „Bandera-Anhänger“ aus Kiew würden anreisen.


Übernehmen Russen die Krim? In der Hafenmetropole Sewastopol, dem Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte, meldeten sich hunderte junge Männer für die „Selbstverteidigung“ des rechtspopulistischen „Russischen Blocks“. Dessen Chef Gennadij Basow kündigt an, im Fall einer „nicht verfassungsgemäßen Ablöse“ des Präsidenten innerhalb von zwölf Stunden die Kontrolle über seine Stadt übernehmen zu wollen.

Die auf der Krim dominierende „Partei der Regionen“ scheint die Situation ganz ähnlich zu sehen – formale Beschlüsse der Lokalparlamente gelten als wahrscheinlich. Von einer Wiedereingliederung der Krim in die Russische Föderation, die manche Beobachter befürchten, möchte bisher jedoch niemand sprechen. Selbst Russen-Politiker Basow sagt: „Unter den aktuellen Umständen arbeiten wir im rechtlichen Rahmen der Ukraine. Sollte dieser Rahmen zerstört werden, werden wir uns einen anderen suchen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2014)

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