Marokko: "In Europa finde ich immer Arbeit"

Flüchtlinge aus Marokko
Flüchtlinge aus MarokkoEPA
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In den Wäldern um Ceuta und Melilla, den spanischen Exklaven in Marokko, lagern zehntausende Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten. Sie träumen von einem besseren Leben in Europa.

Der Todesstrand liegt gleich hinter der Grenze. Es ist ein schmaler Streifen mit schwarzem Sand, der sich entlang der Straße hinzieht. Hier versuchten rund 250 Menschen aus Afrika durch das 14 Grad kalte Wasser des Mittelmeers europäischen Boden zu erreichen. Sie wollten – koste es, was es wolle – die Stadt Ceuta erreichen. Das ist eine von zwei spanischen Exklaven auf marokkanischem Territorium im Norden des Landes.

Ceuta sollte in den Augen der Afrikaner der Beginn eines neuen, guten Lebens sein. Für 16 von ihnen bedeute es jedoch das Ende. Sie ertranken im Hagel von Gummigeschossen und Rauchgranaten der spanischen Polizei, der Guardia Civil. „Schüsse knallten unaufhörlich, und plötzlich konnte man nichts mehr sehen“, erzählt Lamin aus Gambia, der an diesem Tag dabei war, um ins gelobte Europa zu gelangen.

Er gehörte allerdings zu denjenigen, die es nicht auf die spanische Seite der Grenze schafften. „Marokkanische Sicherheitsbehörden waren auf einmal da und machten erbarmungslos Jagd auf uns“, berichtet der 20-Jährige. „Nur einer unserer Gruppe, Ali, erreichte Spanien. Aber er war einer von denen, die dort starben.“


Alternativrouten. Der Massenansturm auf die Grenze in Ceuta ist der blutigste Zwischenfall in der jüngsten Geschichte der spanischen Exklaven in Marokko. Nur 2005 hatte es einen ähnlichen Vorfall geben. Damals starben im September mindesten zehn Menschen beim Versuch, den Grenzzaun nach Spanien zu überqueren. Seit dieser Zeit war es ruhig geblieben. Menschen aus Kamerun, dem Senegal, Niger, dem Tschad oder dem Sudan gelangten auf Alternativrouten nach Europa. Auf Booten aus der Westsahara und Mauretanien fuhr man zu den Kanarischen Inseln.

Nachdem diese Route strenger überwacht wurde, liefen Schiffe von der libyschen Küste oder Tunesien Richtung Malta und Italien aus. Nun sind es wieder die beiden spanischen Städte in Marokko, die Tausende von Migranten anziehen. Nicht nur in Ceuta, auch in Melilla, das rund 250 Kilometer Luftlinie weiter östlich an der Mittelmeerküste liegt, stürmten Hunderte die Grenzzäune.

Laut der Vereinigung für Menschenrechte in Andalusien (APDHA) erreichten 2013 insgesamt 4354 Migranten die beiden Exklaven. Im Vorjahr waren es 2861 gewesen. Das ist eine Steigerung von 34,3 Prozent. Der spanische Geheimdienst sprach von insgesamt 30.000 Migranten, die vor den Toren Ceutas und Melillas lagern, um die einzigen europäischen Landesgrenzen in Afrika mit aller Gewalt zu überqueren. „Diese Zahlen gehören zu einer populistischen Rhetorik, die vor einer bedrohlichen Welle warnt“, glaubt Judith Sunderland von Human Rights Watch (HRW). „In Marokko gibt es rund 25.000 afrikanische Migranten, von denen nicht alle nach Europa wollen. Sie lagern auch nicht vor den Toren der Exklaven.“

Lamin und seine Gruppe sind in ihr Lager in den Hügeln rund um Ceuta zurückgekehrt. In selbst gebastelten Zelten schlafen die rund 50 jungen Männer aus dem Senegal, Gambia, Niger und Mali in einer kleinen Schlucht zwischen Bäumen. Man hat sich den Platz ausgesucht, da er vor dem kalten Wind und den heftigen Regenschauern im Winter etwas schützt. Dazu gibt es einen kleinen Fluss, der sich durch die Berge schlängelt. „Ich habe darin gerade ein Bad genommen“, erzählt Lamin, der ein kurzärmliges Trikot der deutschen Fußballnationalmannschaft trägt.

„Mir ist ganz warm“, versichert der junge Mann, aber nach wenigen Minuten läuft ihm eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Die anderen seiner Gruppe sind alle dick eingemummt, mit Mützen und Anoraks. Einige von ihnen sind schon fünf, mache zehn Jahre in Marokko. Andere sind vor drei Monaten oder einem Jahr angekommen. Viele haben Frau und Kinder zu Hause. Unisono beklagen sie sich über die Brutalität der marokkanischen Polizei, die von verschiedenen Menschenrechtsorganisationen bereits dokumentiert wurde. „Sie waren erst vor zwei Tagen da“, erklärt Babukar aus dem Senegal.

„Sie kamen frühmorgens, schlugen uns, zerstörten unsere Zelte, nahmen uns die Handys und unsere Lebensmittel ab.“ „Sie sind Barbaren“, ruft Ahmedu aus Mali aufgebracht. Der 36-Jährige ist der Älteste im Lager und hat sein Heimatland bereits vor fünf Jahren verlassen. „Man kann von Glück sagen, wenn sie einem nicht die Knochen brechen.“

Die Männer im Camp erscheinen trotz unterschiedlicher Nationalitäten und Religionen als eingeschworene Gemeinschaft. Sie haben eine gemeinsame Kassa, aus der Lebensmittel wie auch Medikamente bezahlt werden. Im Schichtwechsel betteln sie auf der nahe gelegenen Hauptstraße oder in den umliegenden Dörfern. Was sie eint, ist ihr Traum von Europa. „Wir wollen unbedingt nach Spanien, Frankreich oder Deutschland“, versichert der 20-jährige Mohammed, der von einer Fußballprofikarriere als Torwart träumt und den Spitznamen „Neuer“ in Anlehnung an den Keeper des FC Bayern trägt. Andere wollen als Elektriker, Schreiner oder auf dem Bau arbeiten. „In Europa finde ich immer gut bezahlte Arbeit“, behauptet Mohammed, „selbst wenn ich als Torwart kein Geld verdienen sollte.“

Selbstmörderisch sei man jedoch nicht, erklärt Lamin, der einer der drei Campsprecher ist. Man würde nicht jedes Risiko auf sich nehmen, um auf die andere Seite zu kommen. „Wir sparen auf ein Schlauchboot, mit dem wir übers Mittelmeer rudern können.“ Es würde allerdings noch viele Monate dauern, bis sie dafür das Geld zusammenhätten.

In Nador, der marokkanischen Grenzstadt zu Melilla, ist die Lage angespannt. Hier sollen einige tausend Migranten in den Hügeln von Gourgour campieren. Es sind mehr als in Ceuta. Die algerische Grenze ist von Nador keine 100 Kilometer entfernt. Über das Nachbarland kommen alle neuen Flüchtlinge aus Afrika. Bis August hatte Marokko noch die meisten Migranten ins Niemandsland der Grenze zu Algerien deportiert, die postwendend wieder zurückkamen. Marokko ist dabei, seine Immigrationspolitik zu ändern, vergibt Aufenthalts- sowie Arbeitsgenehmigungen und setzt Migranten nicht mehr einfach irgendwo aus.

Trotz erster positiver Schritte: Nach Gourgour in die Flüchtlingscamps zu gelangen, ist angesichts der Polizeipräsenz beinahe unmöglich. Jeder Wagen, der in den Augen der Behörden verdächtig ist, wird verfolgt und kontrolliert. „Wir sind auf der Suche nach Provokateuren“, rechtfertigt sich ein Zivilfahnder, der wie ein Mann des Geheimdienstes wirkt. „Wir müssen das marokkanische Volk beschützen“, fügt er hinzu.

„Jeden Tag kommen drei, fünf oder vielleicht auch zehn, die es über die Grenze geschafft haben“, sagt Carlos Montero Diaz. Er ist der Direktor des Zentrums für temporären Aufenthalt von Immigranten (CETI) in Melilla. Nach den Massenanstürmen auf den Grenzzaun ist sein Zentrum hoffnungslos überfüllt. „Normalerweise haben wir Platz für 482 Menschen, heute sind es jedoch 1025.“ Man müsse ständig erweitern und nachdenken, wie mehr Unterkünfte geschaffen werden könnten. „Dabei geht es nicht nur um Schlafplätze“, erläutert Diaz. „Die Leute werden medizinisch versorgt, eine Sozialarbeiterin kümmert sich um die Probleme der Immigranten, es gibt Spanischkurse, Fortbildung für Erwachsene, und die Kinder brauchen Schulbildung.“ Es sei eine Rundumversorgung, die die Insassen des Zentrums genießen, das sie tagsüber verlassen können.

Die Menschen stammen aus insgesamt 40 verschiedenen Ländern. Der überwiegende Teil stammt vom afrikanischen Kontinent, es gebe aber auch Leute aus Pakistan, Bangladesch, Burma, und seit letztem Sommer seien auch Syrer dazugekommen. Sie sind auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg zwischen Rebellen und dem Regime von Präsident Bashar al-Assad. „Wir spüren hier alle Entwicklungen Afrikas und des Nahen Ostens“, stellt der Leiter des Immigrationszentrums fest. „Was in Melilla und in Ceuta passiert, betrifft ganz Europa.“ Jeden Monat werden Immigranten aus dem Zentrum auf die spanische Halbinsel transferiert. „Diesen Monat waren es 44 Afrikaner und 295 Syrer, die als Kriegsflüchtlinge als eine der Ersten unser Zentrum verlassen können.“


500 Euro. „Ich bin mit Frau und Sohn bereits ein Jahr und sechs Monate in Melilla“, erzählt Kevin aus Nigeria, der im Stadtzentrum von Melilla für einige wenige Euro Taxis wäscht. „Ich weiß bis heute nicht, wie es weitergehen wird. Alles steht in den Sternen.“ Kevin ist einer der wenigen, der in einem Motorboot entlang der marokkanischen Küste in die Exklave geschmuggelt wurde. „500 Euro habe ich für mich und meine damals schwangere Frau bezahlt.“ So viel Geld haben die meisten der Migranten nicht. Deshalb versuchen sie, über den Zaun zu klettern. „Das ist kostenlos“, sagt Kevin lachend.

Lamin, Babukar, Mohammed und all die anderen Migranten, die in den Wäldern in Marokko hausen, wollen sich auf keinen Fall von ihrem europäischen Traum abbringen lassen. „Mir bleibt keine Alternative. Zu Hause habe ich nichts“, sagt Mohammed.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.02.2014)

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