Umsturz in der Ukraine: Timoschenko frei, Präsident abgesetzt

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Die freigelassene Oppositionsführerin Timoschenko wurde auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew wie eine Volksheldin empfangen. Der aus dem Amt gejagte Präsident spricht von einem "Staatsstreich".

In Kiew überschlugen sich am Samstag die Ereignisse: Präsident Viktor Janukowitsch floh aus der Hauptstadt – in die ostukrainischen Großstadt Charkiw. Die Stadt gilt als Hochburg des Janukowitsch-Lagers. Auch die Sicherheitskräfte waren hier noch präsidententreu.

Die in Charkiw inhaftierte frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko wurde nach einem Beschluss des Parlaments am späten Samstagnachmittag entlassen – sie machte sich auf den Weg nach Kiew. „Die Diktatur ist gestürzt“, verkündete die 53-Jährige. Timoschenko kündigte an, sie werde für die Präsidentschaftswahlen kandidieren. Sie sei sei sich sicher, dass die Ukraine in naher Zukunft der EU beitreten werde. Dies werde „alles verändern." Die EU hat in einer ersten Reaktion die Freilassung Timoschenkos begrüßt und verantwortungsvolles Handeln gefordert.

Timoschenko fuhr nach ihrer Freilassung sofort in die Protestzone im Stadtzentrum der Millionenstadt, um der „toten Helden“ zu gedenken, und forderte in Kiew eine Bestrafung der Täter. Es gelte, das Andenken der Menschen zu ehren, die für die Freiheit der Ukraine gestorben seien.

Als sie in den Abendstunden  auf dem Maidan in Kiew eintraf, wurde sie wie eine Volksheldin gefeiert. „Ihr habt 46 Millionen Ukrainer vertreten. Ich glaube fest, dass wir eine Ukraine schaffen, die ihr wollt“, rief die wegen ihres Rückenleidens in einem Rollstuhl sitzende Ex-Regierungschefin den Demonstranten zu. In einer emotional gehaltenen Rede forderte sie die Demonstranten auf, auf dem Maidan zu bleiben, bis das Ziel erreicht worden sei. Zuvor sei ein „Geschwür“ in dem Land gewachsen, sagte Timoschenko.

Am späten Freitagabend, nur wenige Stunden nach der Einigung mit der Opposition, war es Präsident Viktor Janukowitsch in der Hauptstadt offenbar zu brenzlig geworden: Er ergriff die Flucht. Gemeinsam mit Andrej Kljujew, dem Leiter der Präsidialadministration und engen Vertrauten, sowie mehreren Leibwächtern verließ er Kiew mit einem Privatjet. Auch seine Residenz ließ er unbewacht zurück – am Samstag spazierten dort Kiewer Bürger im Garten und bestaunten das luxuriöse Anwesen, darunter den Privatzoo des Präsidenten.

UKRAINE EU PROTEST
UKRAINE EU PROTEST APA/EPA/SERGEY DOLZHENKO


„Staatsstreich“. Janukowitsch meldete er sich in einem Charkiwer TV-Lokalsender zu Wort. In einem siebenminütigen Interview erklärte er, dass er nicht daran denke zurückzutreten: „Das ist Banditentum und Vandalismus, das ist ein Staatsstreich.“ Er wolle alles tun, um eine Teilung seines Landes zu verhindern. Er werde im Land bleiben, sich mit den Menschen treffen und öffentliche Äußerungen tätigen. Offenbar will er seine Getreuen im Osten und auf der Halbinsel Krim um sich sammeln.

In Kiew waren zuvor Fakten geschaffen worden: Parlamentssprecher Vladimir Rybak trat zurück. De facto machte er den Weg frei für die Übernahme des Parlaments durch die Opposition. Das Parlament verabschiedete einige Gesetze, die dem Präsidenten zusehends die Luft zum Atmen zugeschnürt haben mussten: Es setzte Innenminister Vladimir Sachartschenko ab, der für die Gewalt gegen die Demonstranten verantwortlich gemacht wurde. Weiters stimmte die Rada für die Freilassung und Rehabilitierung von Julia Timoschenko, die in Charkiw wegen Amtsmissbrauchs einsitzende frühere Premierministerin. Timoschenko war im Oktober 2011 in einem international kritisierten Prozess wegen Amtsmissbrauchs verurteilt worden. Die Anführerin der demokratischen Orangen Revolution von 2004 wirft ihrem Erzfeind Janukowitsch vor, er wolle sie politisch ausschalten. Timoschenko hatte bei der Präsidentenwahl im Februar 2010 die Stichwahl gegen Janukowitsch knapp verloren. Schließlich wurde auch Janukowitsch seines Amtes enthoben.

Während die bisherige Kiewer Regierung keinen Widerstand mehr zeigte und die „verantwortungsvolle Übergabe der Macht gemäß Recht und Verfassung“ zusicherte, besetzte das Parlament im Eilverfahren die Ämter des neuen Kabinetts. Der Oppositionsabgeordnete Arsen Awakow (Vaterlandspartei) – er ist früherer Gouverneur des Gebiets Charkiw und tauchte 2012 wegen Korruptionsermittlungen der Behörden für einige Zeit in Italien unter – wurde zum neuen Innenminister gewählt.


Neuwahlen im Mai.
Neuer Parlamentspräsident ist Olexander Turtschinow. Er ist Mitglied von Timoschenkos Vaterlandspartei. Oppositionspolitiker Vitali Klitschko sagte, es sei wichtig, dass das Parlament nun seine Arbeit aufnehme. „Wir müssen in kurzer Zeit wichtige Entscheidungen für das Land treffen. Wir müssen die Ukraine aus der politischen Instabilität führen“, erklärte er. Neuwahlen sollen bald folgen. „Für Millionen Ukrainer kommt nur eine Option infrage: vorgezogene Präsidenten- und Parlamentswahlen“, sagte Klitschko. Per Twitter nannte er den 25. Mai als spätesten Termin. Ein symbolträchtiges Datum: An diesem Tag wird auch ein neues Europaparlament gewählt.

„Historischer Augenblick“. EU-Parlamentschef Martin Schulz nannte Timoschenkos Freilassung „einen  historischen Augenblick für die Ukraine und für Europa“. Auch in Washington wurde die Freilassung begrüßt. Das Weiße Haus forderte Timoschenko aber auf, mit Russland, Europa und den internationalen Organisationen zusammenzuarbeiten, um eine vereinte und demokratische Ukraine zu schaffen.

(Jutta Sommerbauer/Red.)

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