"Man musste schießen, es gab keinen anderen Ausweg"

Der Kiewer Politologe Volodymyr Gorbatsch verteidigt die Anwendung von Gewalt durch die ukrainischen Regimegegner.

Wie würden Sie die Ereignisse in der Ukraine charakterisieren: Sind wir Zeugen eines Coups, eines Umsturzes, einer Revolution?

Volodymyr Gorbatsch: Es ist ein Volksaufstand. Am Schluss lief er in bewaffneter Form ab. Ob man es Revolution nennen kann, wird von den Veränderungen in naher Zukunft abhängen.

An versuchten Revolutionen gibt es hierzulande keinen Mangel.

Ja, aber in der ukrainischen - und russischen - Gesellschaft ist es anders als in Mitteleuropa noch nicht zu einer bürgerlichen Revolution gekommen. Bei uns herrscht ein feudalistisches System: Oligarchen und Magnaten haben das Sagen. Das betrifft natürlich nicht nur die Landwirtschaft, sondern vor allem die Industrie im Osten das Landes. Das sind Herrschaftsstrukturen, wo eine große Abhängigkeit der Bevölkerung von diesen starken Männern herrscht. Der Versuch, eine bürgerliche demokratische Revolution durchzuführen, ist nie zu Ende geführt worden - weder im 17. Jahrhundert, noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auch nicht während der Perestrojka. Ich hoffe, dass es nun zu diesen Veränderungen kommt: Dass endlich der Bürger als Ursprung der Macht gilt. Dann könnten wir endlich ein ganz normales, mitteleuropäisches Volk sein.

Warum ist der Umbruch so blutig abgelaufen?

Der Westen versteht das natürlich nicht, denn da lebt man in einer anderen Realität. Die Polen und jene, die vor kurzem noch unter sozialistischer Herrschaft waren, können das noch eher nachvollziehen. Die anderen denken: Wenn es einen Präsident gibt, ein Parlament, Wahlen - warum soll man das umstürzen? Übersehen wird, dass diese Institutionen hier zwar demokratische Begriffe tragen, aber auf vollkommen andere Weise funktionieren. Mit Viktor Janukowitsch ist eine Gang an die Macht gekommen. Sie haben die staatlichen Institutionen privatisiert, unter ihre Kontrolle gebracht und wie ihr Eigentum betrachtet. Innerhalb dieses Systems gab es keine andere Möglichkeit als die, wie es passiert ist.

Sie verteidigen die Gewalt?

Ja. Man musste schießen. Es gab keinen anderen Ausweg.

Man hatte diesen Präsidenten gewählt.

Ja, man hatte den Präsidenten gewählt. Aber er hat danach auf illegitimem Weg die Verfassung geändert, Macht usurpiert. Das Regime hat die Justiz und das Parlament unter seine Kontrolle gebracht. Alle demokratischen Abläufe waren Fiktion.

Warum war die von der EU verhandelte Einigung „der Straße" nicht genug?

Die Menschen sagten sich: Wir haben nicht für so einen Kompromiss unser Blut vergossen. Andererseits muss man den EU-Außenministern danken, dass sie einen rationalen Zugang zur Lösung der Krise gefunden haben. Dank dieser Entscheidung hat der Rückzug des Regimes begonnen. Ohne die Vermittlung wäre es zu noch mehr Blutvergießen gekommen.

Wie erklären Sie, dass Janukowitschs System so schnell zusammenbrach?

Das ganze Regime hat auf einer Psychologie der kriminellen Welt aufgebaut. Der Erhalter des Regimes war der Präsident - als Anführer einer kriminellen Gruppe. Alle anderen Untergebenen haben sich solange untergeordnet, wie er sie verteidigen konnte. Die Ethik war folgende: Man durfte alles tun, solange man loyal ist. Und er hat im Gegenzug seine Leute nicht ausgeliefert. Dieses Prinzip hat das Regime am Leben gehalten. Deshalb hat er trotz des ersten blutigen Eingreifens der Polizei den Innenminister Vitali Sachartschenko nicht abgesetzt. Hätte er das getan, wäre es nie so weit gekommen. Doch er konnte sich das nicht erlauben - denn das hätte die Auflösung seines Systems bedeutet.

Was war entscheidend für den Zusammenbruch?

Er ist geflohen, als er begriff, dass sich das System auflöst: Es war der Moment, wo die Sicherheitskräfte, darunter die Spezialeinheit „Berkut", nicht mehr seine Befehle ausführten und am Freitag Mittag das Zentrum verließen. Ihnen war klar, dass der Kompromiss mit der EU - und die darin verhandelten Neuwahlen - bedeutet, dass Janukowitsch, dem sie verpflichtet waren, nicht mehr Präsident sein wird. Daher würden weitere Schüsse Konsequenzen haben, man würde zur Verantwortung gezogen werden. Die Opposition hat den Abzug der Sicherheitskräfte organisiert. Als sie weg waren, ist Janukowitsch geflohen.

Jetzt verlassen die Abgeordneten der Partei der Regionen reihenweise die Fraktion.

Das erinnert mich an den Zusammenbruch der Sowjetunion: Damals sagten sich alle von den Kommunisten los. Das ist eine Massenaustritt - auf allen Ebenen, im Parlament, aus den regionalen und lokalen Behörden. In der Ostukraine läuft das natürlich langsamer. Auf diese Weise versuchen die Mitglieder ihre Haut zu retten.

Moralische Bedenken dürften auch eine Rolle gespielt haben.

In der Partei geht es nicht um Moral. Moral ist eine individuelle Angelegenheit. Ja, es ist ein persönliches Drama. Wissen Sie, bei den Parteimitgliedern ist ein „serviler Charakter" verbreitet: Sie dienen einem Herren. Sie sehen darin nichts Schlimmes. Vor der Machtergreifung der Partei der Regionen waren viele von ihnen Anhänger der Opposition. Sie haben die Seiten gewechselt, um an der Macht zu bleiben. Sie haben keine Überzeugungen.

Besteht die Gefahr der Abtrennung des Ostens oder der Krim?

Diese Idee kommt immer wieder auf, um die Zentralmacht zu hintertreiben. Ja, es gibt Anhänger in der Bevölkerung für die Abspaltung. Aber die Hauptfigur, die dieses Spiel jetzt spielen könnte, ist von der Bühne verschwunden.

Volodymyr Gorbatsch ist politischer Analyst in Kiew. Er ist für das „Institut für Euro-Atlantische Beziehungen“ tätig, das sich für eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato und der Europäischen Union einsetzt. Das Institut wurde von Boris Tarasyuk gegründeten, einem ehemaligen Außenminister des Landes, es erhält Spendengelder aus dem Westen.

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