Premier Jazenjuk: 27 Mrd. Euro Hilfskredite verschwunden

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Der neue Regierungschef der Ukraine kündigt "unpopuläre Entscheidungen" an. Die Staatskasse sei leer.

Es hat viel länger gedauert als geplant, aber am frühen Donnerstagnachmittag ist in Kiew endlich das Kabinett ernannt worden, das die Ukraine aus der Krise führen soll. Und es steht vor einer Herkulesaufgabe. Denn die wirtschaftlichen Probleme sind noch größer als ohnehin angenommen.

Nach Angaben des mit großer Mehrheit gewählten neuen Regierungschefs Arseni Jazenjuk sind 37 Milliarden Dollar (umgerechnet 27 Milliarden Euro) verschwunden, die Viktor Janukowitschs Regime als Hilfskredit erhalten habe. Insgesamt seien in den vergangenen drei Jahren rund 51,2 Milliarden Euro auf Offshore-Konten verschoben worden. Die Goldreserven des Landes seien ebenfalls geplündert. Pensionen würden schon seit einem Monat nicht mehr in voller Höhe ausbezahlt. Kurz: „Die Staatskasse ist leer“, sagte Jazenjuk und kündigte „unpopuläre Entscheidungen“ an. Unterm Strich stünden Schulden von rund 55 Mrd. Euro. Das Gesamtvolumen an Zahlungsverpflichtungen belaufe sich gar auf 95 Mrd. Euro. Jazenjuk will nun sofortige Gespräche mit der EU und dem Internationalem Währungsfonds (IWF) führen. Ziel seien ein EU-Assoziierungsabkommen und eine visafreie Einreise in die EU für die Bevölkerung. Und natürlich geht es auch ums Geld.

Denn die Zeit drängt: Die Landeswährung Hriwnja befindet sich seit Tagen im Sinkflug. Auch an Europas Börsen rumort es. IWF-Chefin Christine Lagarde kündigte noch am Donnerstag die Entsendung eines Teams an, um Rahmen und Konditionen für eine mögliche Finanzhilfe abzustecken. Der neue Finanzminister, Alexander Schlapak, einst Wirtschaftsminister, sagte der Agentur Interfax Ukraine: „Wir werden um mindestens 15 Milliarden Dollar (11 Milliarden Euro) bitten.“ Neben dem finanziellem Desaster überschatteten auch die Unruhen auf der Krim die Regierungsbildung (siehe Seite 5):Zur Krise auf der Halbinsel äußerte sich Premier Jazenjuk ausnahmsweise in russischer Sprache: „Die Krim gehört zur Ukraine, wir gehören zusammen.“

Parlament unter Kontrolle der Bürger

Zu Jazenjuks erstem Stellvertreter wurde Vitali Jarema bestellt, Ex-Militär und wie der Premier Mitglied in Julia Timoschenkos Vaterlandspartei. Neuer Verteidigungsminister ist Admiral Ihor Teniuk, der Oberbefehlshaber der Marine war einer der ersten Überläufer. Als Innenminister wurde Arsen Awakow bestätigt, ebenfalls aus Timoschenkos Vaterlandspartei. Das wichtige Amt des Justizministers übernimmt Pawel Petrenko.

Die Wahl fand unter den aufmerksamen Augen der Bürger statt. Parlamentarische Kontrolle hat in der Ukraine in diesen Tagen eine neue Bedeutung bekommen. Nachdem der hohe gusseiserne Zaun rund um das Parlament abmontiert wurde – ein Erbe der Janukowitsch-Ära – haben die Bürger wieder bis vor die Tore des Parlaments Zutritt. Und dort standen sie am Donnerstag auch, zu hunderten. Eine Abordnung von Maidan-Kämpfern hatte einen Panzer herangekarrt, andere standen da mit ukrainischen Flaggen und selbst gemalten Schildern. So unterschiedlich sie auch sind, eines ist ihnen gemein: Die Kontrolle über die politischen Prozesse wollen sie nur ungern den Parlamentariern oder der neuen Regierung überlassen. Das Parlament soll unter der Kontrolle der Bürger bleiben.

„Sondereinheit Berkut vors Gericht“

Roma und Jura sind aus Lwiw, dem früheren Lemberg, angereist. Auch die beiden jungen Männer halten Schilder in der Hand: „Berkut vors Gericht“ steht darauf geschrieben, und noch eine Forderung: „Vollständige Lustration“. Dass Innenminister Awakow gestern angekündigt hat, die Sondereinheit Berkut, die tags davor offiziell abgeschafft worden ist, werde neu strukturiert, gefällt ihnen gar nicht. „Das sind die Leute, die auf die Demonstranten geschossen haben“, sagt Roma. Bei den schweren Zusammenstößen vergangene Woche sind mehr als 80 Menschen ums Leben gekommen – viele davon erschossen von Scharfschützen der Einheit Berkut. Man hat noch längst nicht alle Verantwortlichen verhaftet – und wird es vielleicht niemals schaffen. Dass die Berkut-Einheiten nun weiter ihren Dienst tun sollen, auch unter anderem Namen, missfällt den aufständischen Ukrainern.

Auch geht vielen die Aufarbeitung nicht schnell genug. Derzeit sind es die Demonstranten, die die Politiker mit dem Gefühl der moralischen Überlegenheit vor sich her treiben. Spürbar war das auch am Mittwochabend auf dem Unabhängigkeitsplatz, als Zehntausenden die vorläufige Personalauswahl für das Kabinett des „nationalen Vertrauens“ vorgestellt wurde. Vertrauen genießen die Politiker (noch) keines: Viele der Nominierten – darunter Premier Jazenjuk – wurden ausgebuht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2014)

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