Kofi Annan: "Manchmal muss man dem Teufel die Hand schütteln"

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Der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan über die Krim-Krise, den Bürgerkrieg in Syrien, den Abzug der österreichischen Blauhelme vom Golan und seine Begegnungen mit Diktatoren.

Nach dem Umsturz in Kiew fürchtet Präsident Putin um Russlands Interessen in der Ukraine. Gibt es eine Rechtfertigung für die russische Intervention auf der Krim?

Kofi Annan: Respekt vor der territorialen Integrität eines souveränen Staates ist essenziell. Das ist die Basis, um eine friedliche Zukunft für alle Bürger der Ukraine aufzubauen.

Wie kann die Krim-Krise entschärft werden?

In diesem kritischen Moment für die Ukraine ist es unerlässlich, dass alle Streitparteien in einen direkten Dialog treten, um ihre Differenzen friedlich beizulegen. Einsatz von Gewalt muss um jeden Preis verhindert werden.

Mehr Nähe als zur Ukraine haben Sie zu Syrien. Wenn US-Präsident Obama Sie anriefe und fragte, wie man das Gemetzel in Syrien stoppen könne, welchen Rat gäben Sie ihm?

Erstens ist es unwahrscheinlich, dass Obama mich anruft. Er weiß das, und ich weiß das. Ich war involviert in Syrien und kam sehr früh zum Schluss, dass es keine militärische Lösung des Konflikts gibt. Jede weitere Militarisierung macht alles noch viel schlimmer. Der Ansatz, eine politische Lösung zu suchen, ist richtig. Aber die internationale Gemeinschaft muss die Regionalmächte ins Boot holen.

Sie meinen den Iran.

Iran, Saudiarabien, die Türkei, möglicherweise Ägypten. Denn diese Länder haben direkten Einfluss auf die Milizen in Syrien und auf die Region.

Sie waren vor zwei Jahren Vermittler. Versuchten Sie damals, den Iran und Saudiarabien an den Verhandlungstisch zu holen.

Absolut.

Warum hatten Sie keinen Erfolg?

Die Saudis wollten mit den Iranern nicht an einem Tisch sitzen. Ich bemühte mich, die USA dazu zu bringen, ihren Einfluss auf Saudiarabien geltend zu machen. Aber das klappte nicht.

UN-Generalsekretär Ban Ki-moon versuchte es neulich wieder. Er lud den Iran ein.

Saudiarabien war diesmal bei der Genfer Syrien-Konferenz, der Iran leider nicht. Ich habe immer behauptet: Der Iran muss Teil der Lösung sein.

Warum haben Sie den Job als Syrien-Vermittler vor zwei Jahren hingeworfen?

In den sechs Monaten als Vermittler arbeitete ich sehr hart. Ich legte einen Sechspunkteplan vor, wir schickten UN-Beobachter nach Syrien, eine Waffenruhe wurde ausgerufen. Am 12. April 2012 schwiegen die Waffen. Ich rief die Regierungen auf, all ihren Einfluss auf die Kriegsparteien einzusetzen, damit der Waffenstillstand auch eingehalten wird und man darauf aufbauen kann. Aber sie haben nicht viel getan. Das Fass zum Überlaufen brachte für mich Folgendes: Im Genf-Communiqué war eine Übergangsregierung vorgesehen. Darauf hatten sich alle geeinigt, von den USA über die Russen bis zu den Chinesen. Ich erwartete, dass sie im Sicherheitsrat die Vereinbarung konkretisieren. Aber das geschah nicht.

Weil Russland und China nicht wollten.

Manche ventilierten eine Resolution mit Bezug auf Kapitel sieben UN-Charta (wirtschaftliche oder militärische Zwangsmaßnahmen; Anm.). Das wollten China und Russland nicht akzeptieren. Der Sicherheitsrat blieb zu einer Zeit gespalten, als wir eine Möglichkeit hatten, auf dem Genf-Communiqué aufzubauen. Bei meinem Rücktritt sagte ich meinen Mitarbeitern: Morgen werden sie dort sein, wo ich heute bin. Am Ende kam das Morgen erst 20 Monate später. Der Sicherheitsrat ist nur effektiv, wenn er mit einer Stimme spricht.

Wäre es nicht besser gewesen, gleich zu Beginn in Syrien militärisch einzugreifen? Seit Ausbruch der Proteste 2011 wurden mehr als 120.000 Menschen getötet.

Mehr als das! Es begann alles mit friedlichen Demonstrationen. Bürger standen für ihre Rechte ein, und dann verwandelte sich alles in diesen brutalen Bürgerkrieg. Es gab in dieser Zeit massive Fehlkalkulationen. Verschiedene Regierungen dachten, der Konflikt könne so leicht wie in Libyen in ein paar Monaten gelöst werden. Sie unternahmen Versuche in diese Richtungen. Die „Freunde Syriens“ formierten sich, nach dem Libyen-Modell. Sie schickten auch Waffen an die syrische Opposition. Aber: Syrien ist in einer viel sensibleren Lage als Libyen.

Auch in den USA trat praktisch niemand für eine Intervention in Syrien ein.

Die US-Regierung ist vorsichtig. Der Präsident wurde auch deshalb gewählt, weil er versprach, die Boys aus dem Irak und Afghanistan nach Hause zu holen. Da wollte er kein neues Militärabenteuer starten.

Interessant, wie vergangene Konflikte das Verhalten bei neuen beeinflussen, auch wenn sie gar nichts miteinander zu tun haben.

Generäle führen immer die alten Kriege weiter. Es gibt zwei Arten von Erfahrungen: die akkumulierte und die repetitive. Wir verwenden manchmal das Wort Erfahrung, wenn wir bloß wiederholen, was wir früher getan haben. Doch jede Krise hat ihre ganz besonderen Eigenheiten.

In Ihren Memoiren ziehen Sie eine direkte Linie vom Desaster 1993 in Somalia zum Versagen der internationalen Gemeinschaft beim Völkermord in Ruanda. Um einen Fehler nicht zu wiederholen, hat man einen noch größeren begangen.

George Bush senior hatte tausende US-Soldaten in Somalia stationiert. Sie machten einen sehr guten Job, durchbrachen die Blockaden von Extremisten, um Hilfsgüter zu Bedürftigen zu bringen. Dann, 1993, wurde ein amerikanischer Blackhawk-Hubschrauber abgeschossen und 18 US-Soldaten wurde getötet. Daraufhin wurde die ganze US-Streitmacht abgezogen.

Ein fataler Fehler, nicht wahr?

Auch die anderen westlichen Staaten zogen sich zurück. Kurz danach, 1994, braute sich in Ruanda eine Entwicklung zusammen, die eine militärische Reaktion erfordert hätte (Annan war damals für Friedensmissionen verantwortlich; Anm.). Doch der damalige US-Präsident Clinton hat sich später aufrichtig dafür entschuldigt, dass es sein größter Fehler war, in Ruanda nicht zu handeln. Die Stimmung war damals in Washington so, dass er kaum handeln konnte. Die USA legen bei der UNO ein anderes Maß an als bei ihren nationalen Militäreinsätzen. Sie glauben, so wie andere Regierungen auch, dass UN-Operationen risikofrei sein müssen. Doch es gibt keine risikofreien UN-Einsätze.

Viele Österreicher folgen diesem Konzept. Sie erinnern sich sicher an den Abzug österreichischer Soldaten vom syrischen Golan.

Ich erinnere mich daran.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie davon erfuhren?

Die Welt hat sich verändert, auch die Natur friedenserhaltender Operation. In der Vergangenheit wachten unbewaffnete Blauhelme über die Einhaltung eines Abkommens zweier Staaten. Das war mit relativ geringen Gefahren verbunden. Heute ist es anders: Die UNO ist in unübersichtliche Bürgerkriegssituationen verstrickt und hat es mit Extremisten zu tun. Das bringt erhöhte Risken mit sich. Aber nicht alle Regierung sind sich dessen bewusst. Sie haben es auch nicht ihrer Bevölkerung erklärt.

Hat Österreich mit seinem Abzug vom Golan die UNO enttäuscht?

Das Problem ist nicht nur Österreich. Westliche Länder tragen kaum noch zu friedenserhaltenden Operationen bei. Die meisten Truppensteller kommen aus der Dritten Welt, aus Indien, Bangladesch, Pakistan, Ghana, Brasilien. Auch China wird nun aktiver. Wenn die Länder mit gut ausgebildeten Soldaten nicht mehr mitmachen, schwächen sie die UN-Friedenserhaltung.

Andererseits kam nun auf Initiative Frankreichs gerade eine Intervention in der Zentralafrikanischen Republik zustande.

Frankreich ist nur ein Land. Wo sind die anderen?

Ist die Ära humanitärer Interventionen vorbei?

Ich habe 1999 vor der Generalversammlung die Frage gestellt, wie wir eine Tragödie wie in Ruanda in Zukunft verhindern können. 2005 habe ich die Mitgliedstaaten dazu gebracht, das Konzept der Schutzverantwortung (responsibility to protect) zu billigen. Aber die Schutzverantwortung fängt nicht mit einer bewaffneten Streitmacht an. Zuerst sollen alle anderen Mittel – politischer, diplomatischer und wirtschaftlicher Druck – eingesetzt werden, um Regierungen dazu zu bringen, die Bevölkerung zu schützen. Militärische Gewalt ist nur das letzte Mittel.

In Syrien schützt die Regierung ihre Bevölkerung nicht gerade.

Lassen Sie mich mein Argument zu Ende führen. In Kenia hat die internationale Gemeinschaft das Prinzip der Schutzverantwortung angewendet.

Sie haben dort 2008 vermittelt.

Ja, nach der Wahl in Kenia wurden 1300 Menschen getötet, 650.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben – in einem Land mit 42 Stämmen. Und wenn wir die Konfliktparteien nicht dazu gebracht hätten, miteinander zu reden, hätte es so enden können wie in Syrien. Aber wir haben damals sehr effektiv mit der EU, den USA und der Afrikanischen Union zusammengearbeitet. Und wir haben die Frage militärischer Gewalt nicht einmal aufgeworfen.

Waren Sie manchmal enttäuscht vom mangelnden Interesse des Westens an Afrika?

Wir hätten mehr für Afrika tun können. Jetzt steigt das Interesse, weil der Kontinent der nächste große Hoffnungsmarkt ist. Aber es gibt viele soziale Probleme. Und wir haben all diese Konflikte, deretwegen viele Menschen Afrika als einen schwarzen Kontinent voller Leid und Krieg sehen. Und das, obwohl es unter den 54 Staaten viele Länder gibt, die sich wacker schlagen und beträchtliches Wirtschaftswachstum aufweisen. Mithilfe europäischer und anderer Freunde sollten wir die Konflikte lösen, damit wir uns voll auf die wirtschaftliche Weiterentwicklung und auf das Wohlergehen der afrikanischen Bevölkerung konzentrieren können. Afrika wird ein anderer Kontinent werden. Wir bewegen uns in die richtige Richtung, aber nicht schnell genug.

Gibt es einen speziellen afrikanischen Weg, um Konflikte zu lösen?

Konfliktlösung erfordert überall dieselben Fähigkeiten, dieselbe Bereitschaft zur Versöhnung. Es gibt eine afrikanische Art, mit anderen zu reden und sie einzubinden. Man nennt das Ubuntu: „Ich bin, weil du bist. Deshalb müssen wir zusammenarbeiten.“ Dieser Geist muss gefördert werden. Aber man soll die Bedeutung des afrikanischen Wegs, Konflikte zu bewältigen, nicht übertreiben. Afrikanische Politiker benützen diese Idee gern, um Außenstehenden zu sagen, dass sie sich nicht einmischen sollen. Man sollte sich von ihnen nicht täuschen lassen.

Manche glauben, dass es das Böse gibt. Ist es Ihnen bei Ihren Treffen mit Diktatoren von Persönlichkeitsstrukturen wie Syriens Bashar al-Assad, Iraks Saddam Hussein oder Libyens Muammar al-Gaddafi begegnet?

Nicht unbedingt. Solche Menschen können manchmal irreführend sein. Sie können sehr ruhig sein, versuchen, vernünftig zu argumentieren. Und gleichzeitig weiß man, zu welchen Gräueltaten sie fähig sind. Aber manchmal muss mit dem Teufel die Hand reichen, um das Leben anderer zu retten.

Sie haben als Vermittler 2012 auch mit dem syrischen Präsidenten Bashar al-Assad gesprochen ...

Ich habe ihn dreimal getroffen.

Welchen Eindruck hatten Sie von ihm?

Er sprach schon damals davon, dass er es mit Terroristen und Extremisten zu tun habe, die von anderen bezahlt würden, um Syrien zu destabilisieren. Und er sei sich bewusst, dass der Konflikt in Syrien mit allen seinen regionalen und ethnisch-religiösen Implikationen den ganzen Nahen Osten in Brand setzen könne. Anfangs dachte Assad, er könne die Situation kontrollieren.

Glaubten Sie, mit einem Mann wie ihm einen Deal machen zu können?

Das ist eine Frage, die Vermittlern immer gestellt wird. Wie können Sie mit so jemandem dealen? Unter den richtigen Umständen, wenn die internationale Gemeinschaft geschlossen genug Druck ausübt, kann man mit Assad zu einer Vereinbarung kommen. Aber wenn die Welt gespalten ist, spielt er mit dir. Man muss mit Leuten wie ihm reden, egal, ob sie Bashar al-Assad oder Saddam Hussein heißen. Das ist das einzige Mittel, das ich als Generalsekretär hatte. Ich musste an ihre Vernunft appellieren, sie pushen, unter Druck setzen. Ein UN-Generalsekretär hat keine Armee. Und sogar wenn er eine Armee hätte, ist Gewalt nicht immer die Antwort.

In Ihren Erinnerungen beschreiben Sie, wie Serbiens Ex-Präsident Slobodan Milošević mit Ihnen über Restaurants in New York plaudern wollte, um Sie zu umgarnen.

Ja, Milošević hatte eine Zeitlang in New York gelebt. Und er wollte mir bei einem Gespräch mitten in der Kosovo-Krise die ganze Zeit erzählen, wie wunderbar es in New York ist. Aber ich wusste, wozu er in der Lage war und was in seinem Land vorging. Er wollte mich täuschen und als ganz normaler Mensch wie du und ich herüberkommen.

Wahrscheinlich hat jeder Mensch das Bedürfnis, auch seine abscheulichsten Taten zu rationalisieren und zu rechtfertigen.

Das passiert immer.

Sie trafen in Ihrer Karriere bei der UNO und danach zehntausende Menschen. Wer hat Sie am meisten beeindruckt?

Da denken wir alle an Nelson Mandela (Südafrikas Ex-Präsident; Anm.), der nicht mehr unter uns weilt. Er war sehr beeindruckend und hatte ganz besondere Qualitäten, die hoffentlich nachwirken. Diese unglaubliche Fähigkeit zu vergeben und zu versöhnen. Er ließ nicht zu, dass ihn Bitterkeit in einem Mann verwandelte, der das ganze Land in Flammen hätte setzen können.

Als Generalsekretär trifft man hauptsächlich Politiker und Diplomaten und kaum normale Menschen. Hatten Sie manchmal bei Ihren permanenten Flügen rund um die Welt das Gefühl, in einer Blase zu leben?

Sie haben bis zu einem gewissen Grad recht. Aber als Generalsekretär suchte ich den Kontakt zu Leuten außerhalb der Eliten und Insiderkreise. Ich fuhr bei meinen Reisen oft auch aufs Land, um normale Menschen zu sehen, besuchte Spitäler. Ich las immer auch viel, sprach mit Intellektuellen und Journalisten wie Ihnen.

Wir sind auch nicht ganz normal.

(lacht) Nein, aber es ist wichtig zu hören, was Leute außerhalb politisch-diplomatischer Zirkel denken.

Steckbrief

8. April 1938
Kofi Annan wird in Kumasi, Ghana, geboren. Nach einem Wirtschaftsstudium erhält er mit 20 ein Ford-Stipendium in den USA.

1962
Annan beginnt seine UN-Karriere bei der Weltgesundheits-organisation. Ab 1987 ist er Beigeordneter Generalsekretär der UNO, erst für Personal, dann für Finanzen, schließlich, von 1993 bis 1994, für Friedenseinsätze. In diese Zeit fällt der Völkermord in Ruanda.

1996
Als Kandidat der USA wird Kofi Annan zum Generalsekretär gewählt. Am 29.Juni 2001 wird er für eine weiter fünfjährige Amtszeit bestätigt. Unter George W. Bush verschlechtert sich seine Beziehung zur US-Führung dramatisch. Den Irak-Krieg bezeichnet Annan als illegal.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2014)

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