Reportage: Im Herzen der "Donezker Volksrepublik"

Vor dem Bürgermeisterbüro im Rathaus von Donezk.
Vor dem Bürgermeisterbüro im Rathaus von Donezk.(c) REUTERS
  • Drucken

In vielen Städten der Ostukraine haben weiterhin prorussische Aktivisten das Sagen. In Donezk besetzten bewaffnete Kämpfer nun auch das Rathaus. 150 Soldaten sollen die Seiten gewechselt haben.

Es sind etwa 50 junge Männer, die zum Rathaus von Donezk stürmen. Die prorussischen Aktivisten tragen allesamt schwarze Masken und Schlagstöcke – Journalisten, die fotografieren oder filmen, werden unmissverständlich gebeten, dies zu unterlassen. Unter dem Kommando eines deutlich älteren und militärisch gekleideten Anführers stellen sie sich in einem Halbkreis um den Eingang zum Rathaus auf. Die Nerven scheinen blankzuliegen, denn der berüchtigte Rechte Sektor und Banderowzy (Anhänger des ukrainischen Nationalistenführers Stepan Bandera, 1909–1959) so heißt es, sei im Anmarsch und plane, das Rathaus zurückzuerobern. Nach wenigen Minuten beruhigt sich die Lage, und die jungen Männer kehren wieder in die Regionalverwaltung zurück, die Vertreter einer „Donezker Volksrepublik“ seit dem 6. April besetzt halten. Von ukrainischen Hardcore-Nationalisten im und um das Rathaus ist keine Spur.

(C) DiePresse

Ganz im Gegenteil: Prorussische Kämpfer, die Schleifen des Charkiwer Kampfsportklubs Oplot (Bastion) tragen, haben am frühen Vormittag das Rathaus besetzt. Sie patrouillieren mit unterschiedlichen Gewehren, die Oplot in den vergangenen Wochen beim Rechten Sektor erbeutet haben will, im Erdgeschoß des Rathauses. Eigenen Angaben zufolge wollen sie das Amtsgebäude vor dem Rechten Sektor schützen. Auch die ukrainische Nationalgarde sei nur noch anderthalb Stunden von Donezk entfernt, begründet ein Maskierter seine Präsenz. In die Arbeit der Stadtverwaltung mischten sich die Besetzer nicht ein, erklärt die Rathaus-Pressesprecherin auf Anfrage der „Presse“, und auch eine Sitzung des Stadtrats, in der Aspekte der Fernwärmeversorgung diskutiert wurden, sei völlig ungestört verlaufen.

Proukrainische Demo geplant

Während es in Bezug auf den „Antiterroreinsatz“ ukrainischer Sicherheitskräfte, der vor Tagen angekündigt wurde, widersprüchliche Angaben gegeben hat, nimmt die Anspannung in der Stadt spürbar zu. Regelmäßig flogen am Donnerstag ukrainische Kampfjets über Donezk. Auch deklarierte Anhänger des ukrainischen Staats machten sich in den vergangenen Tagen zunehmend bemerkbar. Hatte sich diese Seite vor Ort weitgehend passiv verhalten, wurden zuletzt Plakate der „Donezker Volksrepublik“ entfernt, seit Dienstag gab es zudem vereinzelte Übergriffe auf prorussische Aktivisten. Für Donnerstagabend planen Vertreter proukrainischer Organisationen eine Großdemonstration auf dem Leninplatz, die von ihren politischen Gegnern vor Ort als einzige große Provokation erachtet wird.

Zu Wort meldete sich am Mittwoch auch die Partei der Regionen, die in einer außerordentlichen Konferenz alle ihre Abgeordneten aus der Region Donezk versammelt hatte. Führende lokale Vertreter der Partei riefen, wie schon zuletzt, zu einer Föderalisierung der Ukraine und zu einer massiven Machtverschiebung in die Regionen auf. Die berühmte Bürgermeisterin von Slawjansk, Nelja Schtepa, forderte die Mächtigen in Kiew auf, am Verhandlungstisch zu einer Lösung zu gelangen und auf einen Militäreinsatz zu verzichten.

Im Unterschied zu den Besetzern der Regionalverwaltung sprach hier niemand von einer Eigenstaatlichkeit des Donbass oder gar einem Anschluss an Russland. Der ukrainische Patriotismus scheint dennoch erschüttert. Als zu Beginn der Veranstaltung die ukrainische Nationalhymne vom Band eingespielt wurde, erhoben sich zwar alle Abgeordneten. Ein kollektives wie inbrünstiges Intonieren, das in anderen Landesteilen der Ukraine derzeit völlig normal wäre, blieb aus: Praktisch niemand sang mit.

Auch in anderen Orten der Ostukraine geht die von Kiew angekündigte militärische Rückeroberung nur stockend vor sich. In Kramatorsk erbeuteten prorussische Aktivsten sechs Panzerfahrzeuge. 150 Soldaten sollen übergelaufen sein. Ob sie zum Seitenwechsel gezwungen wurden oder dies freiwillig taten, war zunächst nicht klar. Das Verteidigungsministerium in Kiew bestätigte den Vorfall. Offenbar fuhren die Panzer in das Stadtzentrum von Kramatorsk. Einer der Soldaten stellte sich als Mitglied der ukrainischen 25. Luftlandedivision vor. Zur Nachrichtenagentur Reuters sagte er: „Wir werden nicht auf unsere eigenen Leute schießen.“ Die ukrainischen Einheiten waren nach Kramatorks und Slawjansk zur Bekämpfung der Moskau-treuen Aktivisten in den Osten des Landes beordert worden.

Zwei Geiseln genommen?

In anderen Städten der Region bildeten sich Bürgerwehren. Sie wollten die Sicherheitskräfte der prowestlichen Führung in Kiew unterstützen und sich gegen die Separatisten verteidigen. Die Ausrufung eines Ausnahmezustands im Osten lehnte Verteidigungsminister Michail Kowal ab.

In Slawjansk berichteten Bewohner, dass in der Bevölkerung Angst herrsche und sich kaum noch jemand auf die Straße traue. So war zum Beispiel die Universität geschlossen, wie Beschäftigte sagten.
In Lugansk wurden laut Verteidigungsministerium in Kiew zwei ukrainische Soldaten von prorussischen Aktivisten als Geiseln genommen. Ein Offizier und ein Soldat seien am Dienstag „von Extremisten“ gefangen genommen und an einen unbekannten Ort gebracht worden. Vor dem Gebäude des Geheimdienstes SBU würden 300 Menschen ausharren; auch mehrere Barrikaden seien errichtet worden. Das berichteten internationale Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die in mehreren ukrainischen Städten die Sicherheitssituation beobachten. Auch in Jenakiewo, Gorlowka und Mariupol sind weiter Gebäude besetzt. Um die Stadt Debalzewo haben Aktivisten mehrere Straßensperren errichtet, sagten die OSZE-Beobachter.

(("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.04.2014))

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.