"Die in der Westukraine sollen uns doch in Ruhe lassen"

Prorussische Demonstranten in Lugansk.
Prorussische Demonstranten in Lugansk.(c) REUTERS
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Früher kauften sie voneinander Fisch und Wurst. Doch der kleine Grenzverkehr zwischen Woltschansk und Belgorod litt arg unter den politischen Turbulenzen.

„Ich bin Separatistin“, sagt Swetlana überzeugt. Die ältere Dame sitzt in einem schäbigen kleinen Büro der Partei der Regionen im ukrainischen Woltschansk, rund 15 Kilometer hinter der russischen Grenze. Separatistin, das heißt in der Ukraine derzeit die Befürwortung einer stärkeren Föderalisierung des Landes. „Es ist wie in einem Studentenheim“, beschreibt Swetlana die Lage. „Zuerst muss jeder für sich selbst Ordnung schaffen, dann folgt die einzelne Etage, erst dann das ganze Haus.“
Was dagegen derzeit in Kiew geschieht, das sei ein Chaos. Weder für den Rechten Sektor, noch für die Anliegen der Demonstranten vom Maidan zeigt die resolute Dame am Lenin-Boulevard in Woltschansk Verständnis. Vielmehr erzählt sie vom guten Verhältnis zum großen Nachbarn im Norden. Die Menschen aus der Ukraine seien immer nach Russland gefahren, um dort Fisch zu kaufen; im Gegenzug kamen die Russen über die Grenze, um sich mit Wurst einzudecken.

Ökonomische Abhängigkeit

Die wirtschaftliche Abhängigkeit der rund 20.000 Einwohner zählenden Kleinstadt von Russland ist tatsächlich groß. Die örtliche Aggregatfabrik, die gleich gegenüber dem Parteibüro liegt, macht einen großen Teil ihres Geschäfts mit Russland. Prorussische Demonstrationen wie andernorts in der Ostukraine hat es in Woltschansk bislang zwar noch nicht gegeben. Trotzdem haben sich in den vergangenen Tagen ukrainische Soldaten durch den Ort in Richtung Grenze bewegt.

Die Befürworter eines Beitritts zur Russischen Föderation dürften hier jedoch trotzdem in der Unterzahl sein. „Die in der Westukraine sollen doch machen, was sie wollen, und uns im Osten in Ruhe lassen“, heißt vielerorts der Tenor – notabene gepaart mit einer großen Portion Sowjet-Nostalgie.

Darunter fällt auch die ukrainische Armee, deren Soldaten in Swetlanas Augen – im Gegensatz zu früher – heute ein desolates Bild abgeben. Keine einheitliche Uniform, nicht mal was zu essen hätten die Soldaten dabei gehabt. Darauf hätten die Anwohner ihnen etwas zu essen gebracht.

Ihre Kontaktdaten will Swetlana zum Schluss nicht mitteilen, zu groß ist das Misstrauen gegenüber Journalisten. Vor der Verabschiedung bittet sie nur noch darum, die Tür zum Büro der Partei der Regionen, der Partei des ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch, offen zu lassen. Sonst würden sich die Menschen noch davor fürchten einzutreten.

Weniger Grenzverkehr

An der Grenze zu Russland gilt es, zahlreiche Fragen der ukrainischen Grenztruppen zu beantworten. Die Mobiltelefone werden auf „kritische“ Fotos kontrolliert, die Taschen gefilzt. Seit sich die Lage in einigen ostukrainischen Städten zugespitzt hat, ist der Grenzverkehr zurückgegangen. An diesem Nachmittag passieren fast ausschließlich Autos mit ukrainischen Kennzeichen.

Einige hundert Meter weiter liegt der neu gebaute russische Grenzübergang, der erst vor sechs Monaten eröffnet wurde. Konzipiert, um große Lastwagen abzufertigen, wirkt die Anlage derzeit fast gespenstisch verwaist. Durchschnittlich 200.000 Menschen haben im vergangenen Jahr pro Woche die Grenze zwischen dem ukrainischen Charkiw und der russischen Region Belgorod überquert. In diesem Jahr waren es bisher lediglich 130.000 Grenzgänger, so Wiktor Satryka, ein Soziologe an der Universität Belgorod.

Transportkorridor

Die Grenzregion sei ein wichtiger Transportkorridor zwischen Russland und der Ukraine. Vor allem landwirtschaftliche Güter werden importiert und exportiert. Belgorod und Charkiw haben eine lange gemeinsame Geschichte, seit Mitte des 17. Jahrhunderts besteht die gemeinsame Region namens Sloboshanschina.
Unter derselben Bezeichnung finden nun etwa an der Universität Belgorod gemeinsame Projekte russischer und ukrainischer Studenten statt. Dies hat allerdings zuletzt unter den Turbulenzen zwischen Kiew und Moskau gelitten. Laut Satryka haben die ukrainischen Grenzbehörden die Ein- und Ausreiseregelungen nach Russland verschärft. Wirtschaftlich dürfte die Situation aber in den kommenden Monaten dazu führen, dass mehr Menschen aus der Region Charkiw Arbeit in Belgorod suchen. Trotz der politischen Spannungen baut Satryka auf die historisch engen Beziehungen dies- und jenseits der Grenze.

(("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.04.2014))

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