Ukraine: "Bürgerkrieg höchst unwahrscheinlich"

Der profunde Ukraine-Kenner Andreas Kappeler analysiert die Wurzeln der gegenwärtigen Staatskrise.

Die Presse: Für wie groß halten Sie die Gefahr, dass die jetzige Staatskrise die Ukraine zerreißt?

Prof. Andreas Kappeler: Diese Gefahr ist sehr gering. Natürlich kann man nie hundertprozentige Prognosen abgeben. Aber weder die politischen Eliten im Osten und Süden noch die im Westen und im Zentrum haben ein Interesse daran, zwei ukrainische Staaten zu schaffen. Und ich denke, es liegt nicht einmal im Interesse Russlands, den territorialen Status quo in Osteuropa zu verändern. Denn das könnte ja auch Rückwirkungen auf Russland selbst haben _ sei es in Tschetschenien oder in anderen Gebieten.

Was ist dann von den jüngsten Abspaltungsdrohungen aus der Ostukraine zu halten?

Kappeler: Mit Unabhängigkeit ist nie gedroht worden, sondern mit einem Autonomie-Status.  Ich halte das für politische Druckmittel oder Drohgebärden. Selbst ein Autonomie-Status ist ziemlich unwahrscheinlich. Im Endeffekt entspräche aber eine Regionalisierung meinem Konzept einer zukünftigen Ukraine: einer föderalistisch organisierten Ukraine nämlich. Aber dafür ist die Zeit offensichtlich noch nicht reif.

Hieße denn eine Orientierung hin nach Europa, dass die Ukraine sich von Russland löst?

Kappeler: Solche Behauptungen dienen der bewussten Panikmacherei, genauso wie die Bürgerkriegs-Fanfaren. Gerade habe ich in einer russischen Zeitung gelesen: Der Ukraine droht ein Bürgerkrieg oder das Auseinanderbrechen. Beides ist zum Glück höchst unwahrscheinlich.

Wie sieht denn die Elite in Moskau heute die Ukraine? Als Russlands westlichen Vorhof?

Kappeler: Das ist ein zentrales Problem. Völkerrechtlich ist klar, dass Russland die Unabhängigkeit der Ukraine in ihren Grenzen anerkannt hat. Zuletzt geschah dies 1997 in einem bilateralen Vertrag. Aber: Moskau betrachtet die Ukraine als "nahes Ausland", was gerade auch die zweimalige offene Einmischung Präsident Wladimir Putins in den ukrainischen Wahlkampf deutlich gezeigt hat.
Die Ukraine gehört nach der russischen geopolitischen Doktrin zum Einflussgebiet Russlands und nicht zu jenem der EU. Wirtschaftlich und strategisch ist die Ukraine für Russland ja auch tatsächlich sehr wichtig, das ist der Hauptgrund für den gegenwärtigen starken Druck aus Moskau.

Hat sich auch die russische Gesellschaft mit einer unabhängigen Ukraine abgefunden?

Kappeler: Nur sehr widerwillig. Man muss sie akzeptieren, aber im Inneren hält man die Ukrainer für ein Brudervolk, für halbe Russen, für einen Teil der großen russischen Nation. Für diese Haltung gibt es auch Gründe: die gemeinsame Orthodoxie, die teilweise gemeinsame Geschichte, die sprachliche Verwandtschaft.
Hier liegt ein seit 1991 schwelendes Konfliktpotenzial zwischen der Mehrheit der Russen und den national gesinnten Ukrainern, die völlig unterschiedliche Visionen haben. In der Ost- und Südukraine aber ist die enge Verwandtschaft mit Russland, mit der russischen Kultur und Sprache stark ausgeprägt.

Wenn wir die andere Seite betrachten: Wie beurteilen Sie die Rolle Polens in der Ukraine und in der jetzigen Krise? Findet da gerade eine Art Neuauflage des historischen Tauziehens zwischen  Polen und Russland um die Ukraine statt?

Kappeler: Ich habe gerade die Ausführungen eines russischen Publizisten gelesen, der alte, aus dem 19. Jahrhundert stammende Verschwörungstheorien hat aufleben lassen: Die Polen seien an allem schuld. Sie hätten Juschtschenko gegen Russland aufgehetzt, sie nützten die jetzige Ukraine-Krise in der aktuellen Politik aus, um ihre eigene Stellung in der EU zu verbessern. Daran ist, wie an den meisten Verschwörungstheorien, nichts . Aber es wirft ein bezeichnendes Licht auf Stimmungen in konservativ gesinnten russischen Eliten.

Aber was will Warschau heute?

Kappeler: Polen ist interessiert an einem stabilen Nachbarn Ukraine, es hat das Problem einer langen EU-Außengrenze nach Osten. Polen hat sich seit 1991 mit sehr viel Erfolg für gute Beziehungen zur Ukraine eingesetzt _ was nicht selbstverständlich war angesichts der schweren historischen Hypotheken. Ich denke aber, dass man aus der polnischen Vermittlertätigkeit in diesem Konflikt doch sehr viel erwarten kann. Zumal Präsident Aleksander Kwasniewski, der ja selbst aus der alten kommunistischen Elite kommt, sicher leichter eine gemeinsame Sprache mit den politischen Eliten in der Ukraine und in Russland findet als Westeuropäer oder Amerikaner. Ich halte die direkte Vermittlung von Kwasniewski also für viel sinnvoller als jene des EU-Außenpolitik-Beauftragten Javier Solana. Der wird gerade in dieser Weltgegend halt immer noch mit der Nato assoziiert.

Aber bei allen Vermittlungsbemühungen gilt wohl: Um Russland kommt man nicht herum.

Kappeler: In der Tat nicht. Und es ist völlig klar: Für den Fall, dass Viktor Juschtschenko doch Präsident der Ukraine wird, muss er sich sofort um ein gutes Verhältnis zu Russland bemühen. Denn die große wirtschaftliche Abhängigkeit der Ukraine von Russland, die großen russisch-sprachigen Bevölkerungsteile im Osten und Süden machen es notwendig, Rücksicht auf die Großmacht Russland zu nehmen, die auch ihre Interessen wahren will. Das muss man einfach konzedieren.
Man kann Russland nicht, wie das zu Zeiten des Kalten Krieges einst US-Präsident Ronald Reagan mit der Sowjetunion getan hat, als "Reich des Bösen" hinstellen. Russland ist im östlichen Europa einfach eine Großmacht, die ihre Interessen verteidigt _ wie jeder andere große Staat dies auch tut.

Hat sich in der Ukraine denn seit der Unabhängigkeit so etwas wie ein Nationalbewusstsein herausgebildet?

Kappeler: Die Ereignisse in den vergangenen Tagen haben mich bestärkt, dass die Ukraine in den letzten 13 Jahren doch einen erstaunlichen Weg zurückgelegt hat. Wenn man sich zurück erinnert an die wirklich sehr desolate Situation der Ukraine in der Sowjetunion _ ein provinzielles, politisch äußerst konservatives, von Kommunisten total beherrschtes Land _ ist jetzt umso überraschender und erfreulicher, dass sich in diesen Tagen eine starke zivilgesellschaftliche Basis zeigt.

Dennoch, gerade die jüngsten Präsidentenwahlen zeigten eine offensichtliche Zweiteilung des Landes.

Kappeler: Die hat sich schon in früheren Wahlergebnissen gezeigt. Grob gesagt: eine nach Westen ausgerichtete West-, Zentral- und Nordukraine und ein nach Russland orientierter Osten und Süden. Ganz sicher falsch aber ist das im Westen gängige Klischee: Westukraine, das ist das griechisch-katholische Galizien und die Karrpato-Ukraine, die einst zu Österreich-Ungarn und Polen gehörten und erst 1939/1944 zur Sowjetunion kamen _ das ist quasi Juschtschenko.
Das ist eine  verkehrte Perspektive schon deswegen, weil die griechisch-katholischen Ukrainer nicht einmal ein Siebentel der ukrainischen Bevölkerung und vielleicht 20 Prozent des Wählerpotenzials von Juschtschenko ausmachen. Entscheidend für die Anhängerschaft Juschtschenkos sind nicht die gerade in Österreich sehr vertrauten westlichen Regionen, sondern entscheidend für die Opposition ist das Zentrum um Kiew auf beiden Seiten des Dnjepr. Dieses Gebiet ist es, das die Geschichte der Ukraine bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ausmacht.

Und die übrige Ukraine?

Kappeler: Der Osten und Süden der heutigen Ukraine sind erst seit dem 18. und dann vor allem erst im 19. Jahrhundert besiedelt worden. Das war vorher weitgehend unbesiedeltes Steppengebiet, das zum Khanat der Krimtataren gehört hatte: Donbass seit dem 19. Jahrhundert, Charkow seit dem 17. Jahrhundert, das südukrainische Odessa, eine ehemalige türkische Festung, seit dem späten 18. Jahrhundert. Das sind Gebiete, die quasi nie ukrainisch waren und auch nie zu Polen-Litauen gehört hatten. Das waren Kolonisationsgebiete, in denen sich neben ukrainischen Bauern viele Russen, deutsche und griechische Kolonisten niederließen. Da hat sich dann zwar ein  regionales, aber nie ein ukrainisches Nationalbewusstsein herausgebildet. Und durch die Russifizierungspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts hat die Gesellschaft in diesem Raum dann einen starken russischen Charakter bekommen.

Und auf einer aktuellen Grafik der ukrainischen Wahlresultate sind diese unterschiedlichen historischen Entwicklungen auch heute erkennbar?

Kappeler: Ja. Wobei ich hinzufügen muss, dass die historischen Grenzen nicht den Sprachgrenzen von heute entsprechen. Die Gebiete östlich des Dnjepr waren bis vor kurzem mehrheitlich russisch-sprachig, orthodox sowieso. Juschtschenko selbst stammt aus einer Stadt fast an der russischen Grenze. Das heißt, die konfessionelle Erklärung für das heutige Geschehen passt gar nicht und auch die sprachliche Erklärung passt nicht ganz. Es überschneidet sich alles.

Was passt dann?

Kappeler: Der Blick auf die historische Entwicklung der Landesteile eben. Der Westen und das Zentrum, die über Jahrhunderte zu Polen-Litauen gehörten, waenr seit dem Spätmittelalter westlichen Einflüssen _ Humanismus, Renaissance, Reformation, Gegenreformation, Jesuitenschulen _ ausgesetzt. Kiew hatte die erste ostslawische Hochschule  bevor man in Moskau an Universitäten überhaupt dachte. Kiew war im  Mittelalter ohnehin das erste Zentrum des sogenannten russischen, ostslawischen Staates, dann des ersten ukrainischen "Kosaken-Staates" im 17. Jahrhundert.
Kiew und Umgebung sind das Zentrum, aus dem die ukrainischen Helden herstammen. Die nationalen Mythen der Ukraine, das nationale Geschichtsbild, die Erinnerungsorte, die konzentrieren sich im wesentlichen auf die Gegend rund um Kiew, weniger auf den Westen, und überhaupt nicht auf den Osten und Süden.

Und was hat dann die Ostukraine zu bieten?

Kappeler: In der jüngern, also in der Sowjetgeschichte, wurden das Donezk-Becken und die Südukraine zu wirtschaftlich hoch entwickelten Gebieten: die Südukraine mehr auf dem Gebiet des Handels, die Ostukraine mehr im schwerindustriellen Bereich. Diese Regionen wurden von den Sowjets dann wegen ihres hohen Anteils an Industriearbeitern bewusst gefördert. Das mehrheitlich russisch-sprachige Industrieproletariat wurde als Vorkämpfer des Klassenkampfes bewusst privilegiert und damit zu Sowjetzeiten schon eine grundsätzlich positive Einstellung zu Moskau gefördert.
Im Gegensatz dazu das agrarische Zentrum und der Westen, die von der Zwangskollektivierung und der von Stalin bewusst herbei geführten schrecklichen Hungersnot besonders schwer betroffen waren, der 1932/1933 schätzungsweise bis zu fünf Millionen Ukrainer zum Opfer fielen. Hier gibt es also eine ganz negative Erinnerung an das sowjetische Moskau.
Im ganzen gesehen gibt es in  der Ukraine also zwei historische Großregionen, die völlig unterschiedliche Einstellungen zu Russland und zum Westen und zum Bild einer ukrainischen Nation haben.

Und was folgern Sie daraus?

Kappeler: Die heute im Osten und Süden lebenden Ukrainer sind nicht gegen einen ukrainischen Nationalstaat und gegen eine ukrainische Nation. Aber sie sind für eine zweisprachige ukrainische Nation, sie sind aus historischen und aktuellen wirtschaftlichen Erwägungen für eine starke Anbindung an Russland. Aber das heißt nicht, dass sie für einen Anschluss an Russland sind.
Was sich hier also herausgebildet hat, war vor allem ein starkes regionales Bewusstsein, insbesondere in der Südukraine um Odessa: Diese Region ist kulturell russisch, politisch aber weder für Russland noch für die Ukraine, sondern für die eigene Teilregion. Aus eben solchen Beobachtungen hielte ich eine föderalistische Struktur für die Ukraine für das Richtige. Es geht nicht immer um ethnische oder religiöse Probleme, wie wir im Westen immer meinen. Es geht oft genug einfach nur um regionale Bedürfnisse.

Auch darum also Ihr Vorschlag eines föderativen Modells.

Kappeler: 1996, bei einem Weltkongress der Ukrainisten, habe ich dieses Modell in Charkiw präsentiert. Ich habe wütende Proteste vonseiten national gesinnter Ukrainer geerntet, weil die Föderalismus mit  Sowjetföderalismus gleichgesetzt haben. Ich bin nach wie vor überzeugt: Wenn die Ukraine den Schritt zur Demokratie und zur Gesellschaft schafft, dann muss sie auch eine föderalistische Staatsordnung finden.
Denn die Bedürfnisse der vielen Janukowitsch-Wähler im Osten und Süden sind zu berücksichtigen, die sind legitim. Diese Berg- und Industriearbeiter haben Angst um ihre Arbeitsplätze, die sind auf die Wirtschaftsbeziehungen zum nahe gelegenen Russland angewiesen. Sie sind russisch-sprachig aufgewachsen und haben Angst vor einer Ukrainisierung. Solche Ängste sollte man ihnen nehmen und sollte sie nicht noch schüren. Ob dieser Bevölkerungsanteil  nun 45 Prozent oder auch etwas weniger ausmacht _ das ist ein sehr große Zahl. Die Interessen dieser Leute kann man nicht negieren, wer auch immer die Politik in der Ukraine bestimmt.

Im Vergleich zu Russland und Weißrussland ist doch sehr erstaunlich, was für eine starke und effektive Zivilgesellschaft sich in der Ukraine herausgebildet hat: Wo sehen Sie den Grund dafür?

Kappeler: Mich hat das auch überrascht. Ich habe in den letzten Jahren immer skeptisch über Demokratie und Zivilgesellschaft in der Ukraine geurteilt, weil die politische Elite seit 1991 wirklich kein gutes Bild abgegeben hat, vor allem in die eigene Tasche gewirtschaftet und ohne Bruch die Fortsetzung der sowjetischen Elite verkörpert hat. Ich denke schon, dass hier die historischen Ursachen zusammen mit dem ukrainischen Nationalbewusstsein eine Rolle spielen.
Die andere Sache sind die engen Beziehungen des Westteils der Ukraine zum westlichen Ausland. Zu Polen etwa, wo die Ukrainer seit Jahren in Massen hin- und herströmten. Dann das Internet: eine unheimlich intensive Kommunikation. Nicht im Osten und Süden, wo die Internet-Verbindungen zum Teil gestört und gekappt worden sind. Der Informationsstand der gebildeten und der jüngeren Leute um Kiew und im Westen ist sehr, sehr viel höher als im Osten und Süden, die im wesentlich nur in Richtung Russland kommunizieren.
Was auch nicht übersehen werden kann, ist die charismatische Figur Viktor Juschtschenkos. Es ist ja seit längerem bekannt, dass er populär ist, obwohl auch er eine sowjetische Vergangenheit hat und er auch selbst zum Kiewer Establishment gehörte: als Zentralbankchef und als Ministerpräsident unter Präsident Leonid Kutschma. Aber da hat er sich als Reformer und als wenig korrupter Politiker erwiesen.
Und sein Auftreten ist ein anderes. Es ist nicht das Auftreten eines altgedienten sowjetischen Apparatschiks, sonders es ist die Vorstellung eines Politikers, der zu überzeugen weiß. Das war unbedingt notwendig, für die Mobilisierung der Massen um diese Figur, die die Hoffnungen und die Unzufriedenheit vieler bündeln konnte. Die Gegenfigur, Janukowitsch, ist alles andere als attraktiv und für westlich-aufgeklärte Leute eher abstoßend.

Was hielten Sie denn für eine vernünftige Politik der EU in dieser Situation?

Kappeler: Die EU hat die Ukraine in den letzten Jahren vernachlässigt. Das wurde von ukrainischen Politikern auch immer wieder beklagt. Aus EU-Sicht wiederum war die politische Elite in Kiew unfähig und Präsident Kutschma hat sich mit einigen Skandalen selbst ins Abseits manövriert, dass es sehr schwer war, mit diesen Partnern einen Dialog in Richtung EU-Aufnahme zu pflegen.
Wenn sich jetzt in der Ukraine allerdings ein Machtwechsel vollziehen sollte, ist es höchste Zeit, dass man der Ukraine zumindest in mittelfristigen Dimensionen eine Perspektive für eine Aufnahme gibt. Es ist auch nicht einzusehen, wieso Rumänien oder die Türkei diese Option bekommen haben, nicht aber die Ukraine. Gerade die Ereignisse der letzten Tage zeigen, dass im politisch-zivilgesellschaftlichen Bereich ein Potenzial vorhanden ist, das den Vergleich mit der Türkei oder Rumänien in keiner Weise zu scheuen braucht.
Schnell kann es für die Ukraine sicher nicht gehen, aber es gibt Zwischenstufen. Dazu kommt natürlich, dass auch Russland seinen unwilligen Segen geben müsste. Deshalb wäre ich auch vorsichtig mit einer Aufnahme der Ukraine in die Nato. Das ist immer noch viel heikler als eine Aufnahme in die EU.

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