Tibet: Lhasa brennt – offene Revolte der Tibeter

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Mehrtägige Proteste von Mönchen sind in Gewalt umgeschlagen – Peking schickt Panzer und Soldaten.

LHASA/PEKING. In der tibetischen Hauptstadt Lhasa ist am Freitag die Situation gefährlich eskaliert. Nach mehrtägigen Protestaktionen, an denen sich vor allem Mönche beteiligt hatten, kam es in den Straßen der Stadt zum Ausbruch offener Gewalt. Der Dalai Lama, das geistliche Oberhaupt der Tibeter, appellierte eindringlich an die chinesische Führung, auf den Einsatz brutaler Gewalt gegen Demonstranten zu verzichten. Auch die USA und die EU riefen Peking zu Zurückhaltung bei ihrem Vorgehen in Tibet und zur Freilassung inhaftierter Demonstranten auf.

„Es sind nicht mehr nur Mönche, die protestieren, es sind jetzt Normalbürger, die auf die Straße gehen“, berichtete ein Augenzeuge, „in der ganzen Stadt wird demonstriert.“ In der weltberühmten Altstadt Lhasas wurden Marktstände angezündet, auch Personenfahrzeuge, Motorräder und Autobusse gingen in Flammen auf; Schaufenster wurden eingeworfen. „Es ist sehr chaotisch draußen“, berichtete ein Stadtbewohner, der sich nicht mehr aus dem Haus traute, telefonisch. Aufgebrachte Tibeter sollen auch Polizisten und Feuerwehrleute angegriffen haben, hieß es.

Panzer vor dem Potala-Palast

Touristen berichteten, dass massiv chinesische Sicherheitskräfte ins Zentrum der Stadt vorrückten. Auf dem riesigen Platz vor dem Potala-Palast, dem Wahrzeichen der Stadt, fuhren Panzerfahrzeuge auf. Amerikanische Urlauber berichteten ihrer Botschaft in Peking, sie hätten Schüsse gehört. Die städtische Notfallrettung bestätigte am Freitag, dass die Auseinandersetzungen auch Tote und sehr viele Verletzte gefordert hätten. Einige Mönche sollen sich – als Zeichen des Protestes – die Pulsadern aufgeschnitten haben, andere hätten einen Hungerstreik begonnen.

Einheiten der Bewaffneten Volkspolizei riegelten den Zugang zu den drei größten Klöstern rund um die tibetische Hauptstadt ab. „In Lhasa ist alles geschlossen – Restaurants, Cafés und Geschäfte“, berichtete ein Besucher.

Die Informationslage ist schlecht, da ausländische Journalisten nur mit Genehmigung der Behörden nach Tibet reisen dürfen. So gelangten vor allem Berichte via tibetische Exil-Organisationen und den US-Sender „Radio Free Asia“ ins Ausland. Außerdem meldeten sich Touristen per Internet und Telefon. Die Pekinger Behörden blockierten Fernseh-Berichte von BBC und CNN über die Situation in Lhasa.

Proteste schwappten über

Die Proteste hatten Anfang der Woche begonnen, als etwa ein Dutzend Mönche auf die Straße ging, um des tibetischen Aufstands gegen die chinesische Besatzung 1959 zu gedenken. Damals floh der Dalai Lama ins indische Exil, nachdem die chinesischen Truppen neun Jahre zuvor in Lhasa einmarschiert waren.

Am Dienstag demonstrierten daraufhin hunderte Mönche des Klosters Sera. Sie forderten die Freilassung von Mönchen, die nach dem ersten Protest am Montag festgenommen worden waren. Zugleich verlangten die Freilassung einer anderen Gruppe von Mönchen und von Laien, die seit vergangenem Jahr in Haft ist.

Auch in anderen Provinzen Chinas soll es in tibetischen Tempeln zu Protesten gekommen sein.

Für die Regierung in Peking kommt diese Entwicklung zu denkbar ungünstiger Zeit. Läufer mit der Olympischen Flamme sollen in den kommenden Wochen den Mount Everest besteigen, der an der tibetisch-nepalesischen Grenze liegt. Um zu verhindern, dass es zu Protesten von Exil-Tibetern kommt, haben die Behörden schon jetzt Expeditionen auf der chinesischen Seite verboten.

Peking versucht derweil, die Situation herunterzuspielen: „In den vergangenen Tagen haben ein paar Mönche in Lhasa einige Störaktionen verübt, um Unruhe zu schüren“, erklärte Außenamtssprecher Qin Gan.

APA

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.03.2008)

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