Türkei: Erdoğan zieht Massenzorn auf sich

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Nach dem Bergwerksunglück in Soma weiten sich die Antiregierungsproteste im ganzen Land aus. Der Premier zeigte im Gegensatz zu Staatspräsident Gül zu wenig Anteilnahme.

Istanbul. Ein junger Mann in einem gut geschnittenen Anzug und mit wutverzerrtem Gesicht gehörte am Donnerstag zu den meistdiskutierten Personen der Türkei: Yusuf Yerkel, 32, Berater von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan, wurde dabei fotografiert, wie er auf einen auf dem Boden liegenden Demonstranten eintrat. Und zwar nicht irgendwo, sondern in Soma, jener westtürkischen Bergarbeiterstadt, in der sich am Dienstag das schlimmste Grubenunglück in der Geschichte des Landes zugetragen hatte. Yerkels Tritt wurde für Erdoğan-Gegner zum Symbol der Arroganz und Rücksichtslosigkeit der Regierung.

Erdoğan hatte Soma am Mittwoch besucht und die Leute in der Stadt gegen sich aufgebracht, indem er Grubenunglücke als unvermeidlich bezeichnete – angesichts von fast 300 Toten eine merkwürdige Form der Anteilnahme. Darauf brandete Protest auf in den Straßen der Stadt, Demonstranten traten Wagen aus Erdoğans Fahrzeugkonvois. Am Rande der Proteste rastete Yerkel aus und trat zu.

Kohle für die Stromherstellung

Das Unglück wirft ein Schlaglicht auf die Risken im türkischen Bergbau und in anderen Wirtschaftszweigen. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) leben Arbeiter in der Türkei gefährlicher als in allen anderen europäischen Ländern. Zwischen den Jahren 2002 und 2012 kamen demnach mehr als 1000 türkische Bergarbeiter bei Grubenunglücken ums Leben.

Dabei ist die Kohleindustrie für die Türkei sehr wichtig. Das Land fördert rund 73 Millionen Tonnen Kohle im Jahr, von denen ein Großteil für die Stromherstellung aufgewendet wird: Der ständig steigende Energiebedarf der Türkei wird zu etwa einem Drittel mit Kohlekraftwerken gedeckt. „Andere Länder haben den Bergbau sicherer gemacht, aber die Türkei nicht“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler und Autor Mustafa Sönmez. Im Zuge der Privatisierungen seien auch die Gewerkschaften geschwächt worden, sodass die Arbeitnehmervertreter nicht in der Lage seien, strengere Sicherheitsvorkehrungen durchzusetzen.

Anders als Erdoğan zeigte Staatspräsident Abdullah Gül am Donnerstag bei seinem Besuch in Soma Verständnis für die Wut und Verzweiflung der Betroffenen und forderte, die Sicherheitsbestimmungen müssten überarbeitet werden. Schließlich gehörten katastrophale Grubenunglücke „in entwickelten Staaten“ inzwischen der Vergangenheit an, sagte Gül – eine klare Spitze gegen Erdoğans Motto „So etwas passiert halt“.

Wenige Monate vor der Präsidentenwahl im August – bei der Erdoğan antreten und Gül beerben will – demonstrierte der Amtsinhaber damit in aller Öffentlichkeit, wie man sich als Staatsoberhaupt zu verhalten hat: als Versöhner, nicht als Spalter. Das Fernduell über die frischen Gräber von Soma hinweg wird den Spekulationen über die künftige Besetzung des Präsidentenamtes neuen Auftrieb geben. Gül macht kein Hehl daraus, dass er gerne noch einmal für eine fünfjährige Amtszeit kandidieren würde. Eine Entscheidung zwischen Gül und Erdoğan als Kandidat der Regierungspartei AKP soll in den kommenden Wochen fallen.

Der Premier wird ausgebuht

Der Umgang mit dem Soma-Unglück ist ein Rückschlag für Erdoğans Ambitionen. Die Regierung habe die Reaktion in allen Bereichen in den Sand gesetzt, schrieb eine Kommentatorin am Donnerstag auf Twitter: „inhaltlich, moralisch und von der Außenwirkung her auch“. Ebenfalls am Donnerstag wurde auf YouTube ein Video veröffentlicht, das zeigt, wie Erdoğan von der trauernden Menge in Soma ausgebuht wird. Anschließend folgt der sichtlich verärgerte Premier einem Protestierenden in einen Markt – dort sollen Fäuste geflogen sein, was in dem Video allerdings kaum ersichtlich ist.

Erdoğans Rede und der Fußtritt seines Beraters bildeten jedenfalls eine zusätzliche Motivation für zehntausende Demonstranten, die aus Protest gegen die Regierung auf die Straße gingen und neue Gewalteinsätze der Polizei auslösten. Allein in der westtürkischen Stadt Izmir beteiligten sich nach Medienberichten rund 20.000 Menschen an einem Protestmarsch.

Doch Rückschlüsse auf etwaige Verluste für Erdoğan an der Wahlurne lassen sich daraus nicht unbedingt ziehen, sagte Emre Deliveli, Wirtschaftskolumnist der Zeitung „Hürriyet Daily News“: „Die Demonstranten, die jetzt auf den Straßen sind, hätten Erdoğan ohnehin nicht gewählt“, sagte er. Deliveli hält es für unwahrscheinlich, dass sich Erdoğan-treue Wähler in Massen von dem Regierungschef abwenden werden.

AUF EINEN BLICK

Unglück. In Soma in der westtürkischen Provinz Manisa führte am Dienstag ein elektrischer Defekt zu einer Explosion, als sich mehrere hundert Kumpel unter Tage befanden. Bis Donnerstag erhöhte sich die Zahl der Toten auf über 280 – es ist das schwerste Grubenunglück in der Geschichte der Türkei. Bei seinem Besuch in Soma sprach der Premier Recep Tayyip Erdoğan von unvermeidbaren Gefahren und zog sich den Zorn der Trauernden zu. Im ganzen Land finden Proteste statt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.05.2014)

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