Das Schweigen von Tian'anmen

File photo of a blood-covered protester after violent clashes with Chinese military forces in Beijing's Tiananmen Square
File photo of a blood-covered protester after violent clashes with Chinese military forces in Beijing's Tiananmen SquareREUTERS
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25 Jahre nach der blutigen Niederschlagung von Chinas Demokratiebewegung auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking bleibt das Thema ein absolutes Tabu.

Zhang Xiao* musste ewig suchen. Irgendwo zwischen den Tausenden von Grabsteinen und dem verdorrten Nadelgewächs soll es ein paar Gräber von Leuten geben, die in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni – also fast genau vor 25 Jahren – erschossen wurden. Es ist der einzige Ort in der 20-Millionen-Stadt, an dem an die blutige Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989 auf dem Pekinger Tian'anmen-Platz gedacht werden kann.

Aber nur wer vorher von Angehörigen den Weg zu den Gräbern beschrieben bekommen hat, wird normalerweise fündig. Eine solche Hilfe hat Zhang Xiao aber nicht bekommen. Einen Anhaltspunkt findet der 24-Jährige dann aber doch noch: Kameras. Sie sind vor allem dort installiert, wo auch Tote von „liu si“ liegen, der chinesischen Bezeichnung für den 4. Juni. „Nicht einmal hier lässt der Sicherheitsapparat die Angehörigen in Ruhe“, sagt Zhang Xiao verbittert. Dabei heißt der Friedhof Wan'an, auf Deutsch übersetzt „ewiger Friede“.

Es gibt in China nicht viele, die wie Zhao Xiao aus Interesse die Gräber der Toten vom 4. Juni 1989 aufsuchen. Doch Zhang Xiao hat das Schweigen satt. Er ist in Peking geboren und aufgewachsen. Vor drei Jahren ging er für einen Studienaufenthalt in die USA. Ein Kommilitone sprach ihn auf die Ereignisse auf dem Tian'anmen-Platz an. Natürlich hatte Zhang Xiao schon von den Protesten gehört. Aber was sich damals dort genau abspielte, wusste er nicht – und es hatte ihn bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht wirklich interessiert. Sein amerikanischer Mitstudent hingegen war sehr gut informiert. Dafür schämte sich der junge Chinese.


„Göttin der Demokratie“. Noch am gleichen Abend setzte er sich an seinen Computer. Im Internet stieß er auf Bilder und Videoaufnahmen. Er sah, dass es sich keineswegs nur um „einige wenige Radikale“ gehandelt hatte, wie ihm das einmal erzählt wurde, sondern um Hunderttausende, die sich in den Tagen und Wochen vor dem 4. Juni auf dem Tian'anmen-Platz aufhielten. Er sah die Bilder der hungerstreikenden Studenten, die völlig erschöpft auf Liegen im Ambulanzzelt lagen, aber dennoch ihre Finger zu einem V-Zeichen erhoben – V für Victory.

Zhang Xiao sah sich auch die Aufnahmen über den Bau der „Göttin der Demokratie“ an, einer aus Pappmaché nachgeahmten Freiheitsstatute. Studenten der Pekinger Kunsthochschule hatten sie errichtet. Sie war in den dramatischen Wochen das Symbol der chinesischen Demokratiebewegung. Zhang Xiao fragte sich: „Wie kann das sein, dass ich den Großteil meines Lebens so wenig von diesem einschneidenden Ereignis wusste? In was für einem Land bin ich aufgewachsen?“

So wie Zhang Xiao ergeht es Millionen Chinesen: Ein Vierteljahrhundert nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tian'anmen-Platz weiß eine Mehrheit der Bevölkerung kaum oder gar nichts über die Proteste von 1989. Repräsentative Erhebungen gibt es keine. Wer auf der Straße die Generation der zwischen 20- und 40-Jährigen nach den Ereignissen von damals befragt, erntet meistens nur Achselzucken. Die meisten sind nicht informiert. Und wer etwas weiß, ist kaum bereit, sich zu äußern.

Wang Yuanyuan* ist eine Ausnahme. Sie war 13 Jahre alt, als sich Mitte April 1989 gegenüber ihrer Mittelschule im Pekinger Stadtteil Haidian an der Pädagogikhochschule die Studenten am Haupteingang trafen und im Fahrradkonvoi gemeinsam in Richtung Tian'anmen radelten. Sie kann sich an die vielen Transparente und Banner erinnern, die von den Wohnheimfenstern herabhingen.

„Wir standen alle am Fenster und haben dem bunten Treiben zugeschaut“, erzählt sie. Doch vom Schuldirektor gab es die Anweisung, der Unterricht dürfe nicht unterbrochen werden. Also setzten sie sich wieder auf ihre Plätze. Wenige Tage später erschienen jedoch die Lehrer nicht mehr. Auch sie hatten sich dem Protest angeschlossen.

Nach dem 4. Juni wurde ihre Schule geschlossen, sie und ihre Mitschüler in die vorgezogenen Sommerferien geschickt. Als sie im September zurückkehrten, war die gegenüberliegende Pädagogikhochschule verwaist. Die Lehrer waren zurück. Keiner wagte es, sie auf die Ereignisse anzusprechen. „Wir wussten, wie heikel das ist“, erinnert sich Wang Yuanyuan.

Das gilt bis heute. Die Ereignisse vom 4. Juni 1989 sind in den gesamten 25 Jahren ein Tabuthema geblieben. Weder wird in den Schulen darüber gesprochen, noch an den Unis. Entschuldigt hat sich die chinesische Führung schon gar nicht. Eine historische Aufarbeitung fand nie statt. Während Verfehlungen der Kulturrevolution unter Mao Zedong inzwischen durchaus zur Sprache kommen, werden die Demokratieproteste von 1989 verschwiegen – als hätte es sie nie gegeben.


Der 4. Juni wird zum 35. Mai. Wie Wang Yuanyuan heute darüber denkt? Sie weiß nicht, sagt sie. China habe sich seitdem so sehr verändert. Trotz der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung oder vielleicht auch wegen dieser habe es seitdem noch so viel weiteres Leid gegeben. Sie wolle die Ereignisse vom 4. Juni 1989 nicht relativieren, sagt sie. Doch vor allem in den vergangenen Jahren sind so viele weitere Gräuel im Land bekannt geworden. Nicht zuletzt mithilfe des Internets.

Wer sich informieren will, wird fündig, weiß Zhang Xiao. Auch über Tian'anmen. Zwar löschen die staatlichen Zensoren im Internet alles, was im Zusammenhang mit dem 4. Juni steht. Dennoch fänden sich immer wieder Berichte und Bilder von damals. Sie würden verschlüsselt, die Artikel abfotografiert, sodass die Texte nicht nach Stichwörtern gefunden werden können. Aus dem 4. Juni wird der 35. Mai. „Wer will, kommt an alle Informationen heran“, behauptet Zhang Xiao. Das Problem sei nur: Die meisten jungen Leute wüssten gar nicht, wonach sie suchen sollten.

Das offizielle China hat die Vorfälle stets bagatellisiert. Wurden Vertreter der Regierung international darauf angesprochen, stellten sie die Proteste als Gefahr für den inneren Zusammenhalt des Landes dar. „Durch entschlossenes Eingreifen ist die Stabilität des Landes gesichert worden“, lautet die Version der chinesischen Führung.

Aber abgeschlossen ist auch für sie die Geschichte nicht: Obwohl der 25. Jahrestag im ganzen Land kein Thema ist, geht die Polizei rabiat gegen alle jene vor, die das Ereignis doch in irgendeiner Form thematisieren könnten. Insgesamt 50 Blogger, Menschenrechtsaktivisten, Anwälte und Journalisten werden seit Wochen an unbekannten Orten festgehalten oder haben Hausarrest.


Eisiges Schweigen in der Redaktion. Das hat es in den vergangenen Jahren zwar auch gegeben. Die meisten wurden nach dem Jahrestag aber wieder freigelassen. Dieses Mal könnten die Folgen jedoch weitreichender sein. Als sich im April Aktivisten um den Menschenrechtsanwalt Pu Zhiqiang in einer Privatwohnung trafen, um der Ereignisse auf dem Tian'anmen-Platz zu gedenken, wurden sie verhaftet. Gegen Pu wird wegen angeblicher Unruhestiftung ermittelt. Ihm droht nun eine Haftstrafe.

Zhang Xiao ist inzwischen Journalist einer renommierten Zeitung. Auch in den Redaktionsräumen herrscht über den 4. Juni 1989 Schweigen. Als ein Kollege vor einiger Zeit auf einer Redaktionssitzung das Thema nur am Rand erwähnte, blickten die anderen betreten zu Boden. Der Kollege kam nicht mehr wieder. Trotzdem: Die Beschäftigung mit diesem Thema habe sein politisches Bewusstsein geschärft, sagt Zhang Xiao. „Ich traue seitdem keiner offiziellen Verlautbarung mehr.“ * Namen sind anonymisiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2014)

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