Boris Tarasjuk: "Der Westen hilft uns nicht"

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Ex-Außenminister Boris Tarasjuk zeigt sich enttäuscht von den USA und der EU und klagt über die Schwäche der ukrainischen Armee.

Die Presse: Wie beurteilen Sie die Ereignisse in der Ostukraine: Ist das schon ein Krieg?

Boris Tarasjuk: Es ist eine neue Art von Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt. In Europa kennen wir diese Art von Krieg nicht. Russland betätigt sich subversiv, mit Geheimdienstmitarbeitern, der Unterstützung von Kämpfern und der Versorgung mit Waffen. Ohne die russische Unterstützung wäre es nie so weit gekommen. Niemand hat das erwartet.

Hätte die Regierung in Kiew nicht von Anfang an entschlossener reagieren müssen?

Unter Experten gibt es diese Debatte, ob Kiew resolut genug auf diese Geheimoperation von Russland reagiert hat. Faktum ist aber: Zu Beginn waren die Kiewer Behörden unter großem Druck von unseren Freunden im Westen, die normalerweise demokratischen Kräften ihre Unterstützung zusichern. Was wir aus den Hauptstädten der EU-Länder, der USA und Nato zu hören bekamen, war Folgendes: Verärgert die Russen nur ja nicht! Seid nicht zu aggressiv in eurer Reaktion! Wendet keine Gewalt an! Deswegen haben wir die Krim verloren, und wir erlitten große Verluste auf dem Maidan. Die Ukraine hat dort 106 Menschenleben verloren.

Und jetzt sterben noch viel mehr Menschen im Osten der Ukraine...

So ist es. Ich mache nicht die EU oder die USA für das verantwortlich, was jetzt im Osten der Ukraine passiert. Ich bin aber zu dem Schluss gelangt, dass niemand außer uns Ukrainern mit diesem Problem zurechtkommen muss. Die Außenwelt hilft uns nicht und wird uns nicht helfen, weil sie nicht bereit ist. Man will keinen Dritten Weltkrieg. Den wollen wir auch nicht! Es wird immer noch darüber diskutiert, ob die USA uns mit Helmen und Splitterschutzwesten ausstatten sollen. Bisher haben wir von den USA nur 300.000 Nahrungsmittelrationen bekommen. In der Ukraine gibt es doch keine Hungersnot. Sie sehen, ich bin sehr kritisch, was die Reaktionen des Westens betrifft.

Ein weiterer Schwachpunkt im jetzigen Konflikt sind die ukrainischen Streitkräfte. In welchem Zustand sind sie?

Unser Militär ist in der Amtszeit von Expräsident Viktor Janukowitsch ruiniert worden. Russen befanden sich in führenden Positionen im Verteidigungsministerium und in den Sicherheitsdiensten.

Inwieweit kann die Armee dann den Interessen des Volkes dienen?

Die Armee ist unser großes Problem. Sie ist sehr schwach. Es stellte sich heraus, dass von 60.000 Mann nur 6000 kampffähig sind.

Nun versucht man Freiwillige und Milizen ins Militär zu integrieren. Bringt das nicht das Problem irregulärer Streitkräfte mit sich?

Es ist das Vermächtnis von Janukowitsch, dass wir uns nicht auf die Sicherheitskräfte im Osten verlassen können. Auch die Armee war nicht bereit. Spezialeinheiten wie Berkut kämpften gegen die Bürger. Uns fehlten die Leute, auf die sich ein Staat verlassen kann. Die Kämpfer vom Maidan haben die Motivation, das Land zu verteidigen und gegen Terroristen zu kämpfen. Sie können sich nun der neu gegründeten Nationalgarde anschließen. Es fehlt noch an Ausbildung und Ausrüstung, aber sie sind bereit, die Ukraine zu verteidigen.

Der frisch gewählte Präsident Petro Poroschenko wird am Samstag vereidigt. Kennen Sie die Details seines Friedensplans?

Die wird er am Samstag bei seiner Inauguration erläutern. Ein paar Elemente sind schon bekannt: Er will Bedingungen für die Lokalwahlen in den östlichen Regionen schaffen. Es soll eine Amnestie für die Teilnehmer an den Protesten im Osten geben, solange sie nicht an schweren Verbrechen beteiligt waren. Und natürlich die Arbeit an der Verfassungsreform. Poroschenko hat versprochen, die Situation im Osten sehr bald zu beruhigen. Er ist ein Mann der Tat. Ich nehme an, eine Kombination aus politischen und militärischen Mitteln wäre sinnvoll. Es ist klar, dass er nicht mit denen reden wird, die mit Waffen kämpfen. Aber er kann runde Tische organisieren oder direkte Gespräche mit einflussreichen Menschen in diesen Regionen führen.

Man wird sich wohl auch mit den Separatisten an den Tisch setzen müssen.

Ich vertrete nicht die offizielle Position. Früher oder später werden solche Gespräche beginnen müssen. Dies sollte auf diskrete Art getan werden. Es geht schließlich darum, Ergebnisse zu erbringen.

ZUR PERSON

Boris Tarasjuk ist ein ukrainischer Diplomat und Politiker. Er hatte zwei Mal das Amt des Außenministers inne (1998–2000, 2005/06). Er galt als Gefolgsmann von Präsident Viktor Juschtschenko. Das von der Partei der Regionen dominierte Parlament wählte ihn ab. Tarasjuk war lange Vorsitzender der Partei Ruch. Heute ist er Parlamentsabgeordneter.

Er war auf Einladung der polnischen Botschaft und des Austria Instituts für Europa- und Sicherheitspolitik (AIES) zu Gast in der Agenda Austria in Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.06.2014)

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