Abu Bakr al-Baghdadi, dem Führer der Miliz Islamischer Staat im Irak und der Levante, eilt ein brutaler Ruf voraus. Der Islamwissenschaftler stößt ins Machtvakuum vor.
Wien/Bagdad. Schwarz wehen die Fahnen mit dem Siegel des Propheten Mohammed als Hoheitszeichen der neuen Herren über Falluja und Mosul und einer Reihe anderer irakischer Städte. Es ist die Standarte der schwarz vermummten Krieger der radikal-sunnitischen Miliz Islamischer Staat im Irak und der Levante (Isil) und ihres Führers, Abu Bakr al-Baghdadi. Unter dem Banner führen die Islamisten einen brutalen Eroberungsfeldzug, vor dem die irakischen Soldaten zum Teil Hals über Kopf flüchten und den Aufständischen Waffen und Kriegsgerät – etwa einen Black-Hawk-Hubschrauber – kampflos überlassen.
Zehn Millionen Dollar Kopfgeld hat die US-Regierung auf al-Baghdadi ausgesetzt, der dem Westen inzwischen als gefährlichster Aufrührer in der Unruheregion gilt, als mächtigster Drahtzieher der radikalen Islamisten in Syrien und im Irak. Seine einstigen al-Qaida-Mentoren hat der 43-Jährige längst in den Schatten gestellt. Nach dem Irak-Feldzug George W. Bushs 2003 hatte sich der Islamwissenschaftler aus einer angesehenen Familie aus Samarra dem Kampf des jordanischen Terrorpaten Abu Musab al-Zarqawi angeschlossen. Zarqawi rief einen „totalen Krieg“ gegen die Schiiten aus, mit einer Serie an Selbstmordattentaten avancierte er zum Feindbild Nummer eins der US-Truppen, ehe ihn 2006 eine Bombe der US-Luftwaffe zerfetzte. Noch heute verehren ihn die Isil-Kämpfer als Märtyrer.
In den Folgejahren verlor die Terrorgruppe – mittlerweile umbenannt in Islamischer Staat im Zweistromland – an Einfluss. Erst durch den Konflikt mit der schiitisch dominierten Regierung Nouri al-Malikis in Bagdad gewann sie wieder an Zulauf – vor allem aber durch das Engagement im syrischen Bürgerkrieg, der ihr neue Kämpfer zutrieb – und Geld aus Katar sowie Saudiarabien.
Die grenzübergreifende Strategie, die Gründung von Isil, brachte Abu Bakr al-Baghdadi allerdings in einen Machtkampf mit der syrischen al-Nusra-Front und Ayman al-Zawahiri, dem Mastermind der al-Qaida. Als er sich weigerte, den Anordnungen des Terror-Emirs Folge zu leisten, führte dies zum Zerwürfnis. Baghdadi spielt sein eigenes Spiel – mit dem Ziel, im Irak und Syrien einen radikal-islamischen Gottesstaat zu proklamieren.
Den westlichen Geheimdiensten galt Baghdadi lange als Phantom, auf Propaganda-Auftritte verzichtete er weitgehend. Angeblich hat er in Bagdad eine Dissertation in Islamwissenschaften verfasst, woher sich auch sein „Nom de guerre“ – sein Kampfname – ableitet: „Dr. Abu Dua“. Als Isil im Vorjahr das Abu-Ghraib-Gefängnis stürmte und 500 Häftlinge – darunter zahlreiche Terroristen – befreite, gelang Baghdadi ein Coup, der ihm Sympathien beim Volk eintrug. Zugleich stieß er in den ehemaligen Hochburgen Saddam Husseins in ein Machtvakuum vor.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2014)