Türkei: Bekommt Erdoğan kalte Füße?

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Der Premier zögert mit der Bekanntgabe seiner Kandidatur für die Präsidentschaftswahl. In Umfragen ist er unter die 50-Prozent-Marke gerutscht, was eine Stichwahl nötig machen würde.

Istanbul. Zögerlichkeit ist normalerweise kein Charakterzug von Recep Tayyip Erdoğan. Doch eine offizielle Festlegung auf seine allseits erwartete Kandidatur bei der Präsidentenwahl im August vermeidet der türkische Premier seit Wochen. Erst am 1. Juli, zwei Tage vor Ablauf der Anmeldefrist, will die Erdoğan-Partei AKP ihren Präsidentschaftsbewerber bekannt geben. Einige Beobachter glauben, Erdoğan zaudere, weil er seine Siegchancen sinken sehe. Eine neue Umfrage sieht den 60-Jährigen unter der 50-Prozent-Marke – die Schwelle für einen Sieg in der ersten Runde.

Erdoğan gilt als haushoher Favorit. Doch seine Präsidentschaftsambitionen haben in der AKP erhebliche Unruhe geschaffen, weil es keinen offensichtlichen Kronprinzen gibt, der ihn nach einem Wechsel ins Präsidentenamt als Premier und Parteichef beerben könnte. Als Staatschef müsste Erdoğan beide Ämter aufgeben.

Nachfolge virulent

Der amtierende Staatschef und AKP-Mitbegründer, Abdullah Gül, hat eine Rückkehr in die Tagespolitik unter Erdoğan ausgeschlossen. Das Resultat ist ein Postengerangel hinter den Kulissen, das Erdoğan zur Warnung veranlasste, AKP-Politiker sollten sich nicht in kurzsichtigen Ränkespielen verzetteln. Außenminister Ahmet Davutoğlu wird als einer der aussichtsreichsten Kandidaten für die Nachfolge gehandelt. Doch eine Reihe von älteren AKP-Veteranen, genannt die „Weißbärtigen“, lehnen ihn ab.

Sorge um die Zukunft der Partei ist aber möglicherweise nur ein Faktor, der Erdoğan zögern lässt. Sein Gegenkandidat aus der Opposition, Ekmeleddin Ihsanoğlu, ist als angesehener Ex-Generalsekretär der islamischen Weltorganisation OIC in Sachen Frömmigkeit über jeden Zweifel erhaben. Das ist ein Problem für Erdoğan, der viele Erfolge feiern konnte, weil er seine Gegner als gottlose Säkularisten attackierte.

„Ihsanoğlu ist mit dem Religionsthema nicht angreifbar“, sagte Murat Gezici, Chef des Meinungsforschungsinstituts Gezici Arastirma. Damit sei Erdoğan eine wichtige Trumpfkarte im Wahlkampf vor der ersten Direktwahl eines türkischen Staatspräsidenten aus der Hand genommen worden. Gezicis Institut sieht Erdoğan derzeit bei 47,8 Prozent und Ihsanoğlu bei 44,7 Prozent – und das, obwohl Ihsanoğlu mehr als der Hälfte der türkischen Wählerschaft noch unbekannt ist. Auf den wahrscheinlichen Kandidaten der Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtas, entfallen demnach 7,5 Prozent. Anderen Befragungen zufolge liegt Erdoğan bei 52 bis 54 Prozent, doch selbst da kommt Ihsanoğlu auf 40 Prozent, was die Opposition hoffen lässt.

Erdoğan will im August nicht nur gewinnen – er will sich das Präsidentenamt mit einem Ergebnis von über 50 Prozent im ersten Wahlgang sichern. Nur mit diesem klaren Erfolg könnte er ein Mandat für sich beanspruchen, als Präsident das Land zu regieren. Bisher hat das Staatsoberhaupt vor allem repräsentative Aufgaben. Zudem geht Meinungsforscher Gezici davon aus, dass Erdoğans Chancen in einer Stichwahl am 24. August sinken würden.

Wenn Erdoğan einen sicheren Sieg gefährdet sehe, werde er erst gar nicht antreten, meint Gezici. Genau das hat der Premier jüngst angedeutet. Möglicherweise werde es bei der Kandidatenverkündung eine Überraschung geben, sagte er. Sollte Erdoğan tatsächlich auf die Bewerbung verzichten und Ministerpräsident bleiben, wird wahrscheinlich Präsident Gül ein weiteres Mal für die AKP antreten. Laut Gezici hätte Gül bessere Aussichten als Erdoğan, gleich in der ersten Runde zu gewinnen. Gül macht kein Geheimnis aus der Tatsache, dass er gern fünf weitere Jahre im Präsidentenamt bleiben würde.

Derweil will die Opposition den Druck auf Erdoğan erhöhen. Kemal Kilicdaroğlu, Chef der oppositionellen CHP und Unterstützer Ihsanoğlus, kündigte die Veröffentlichung von Dokumenten an, die Waffenlieferungen der Regierung an Extremisten in Syrien beweisen sollen.

AUF EINEN BLICK

Präsidentschaftswahl. Für den 10. August ist in der Türkei die erste Direktwahl des Präsidenten angesetzt, die Frist für eine Kandidatur endet am 3. Juli. Eine Bewerbung von Premier Recep Tayyip Erdoğan für das höchste Staatsamt galt lange als fix, doch neue Umfragen signalisieren, dass er womöglich die für die Wahl nötige absolute Mehrheit im ersten Wahlgang verfehlen könnte. Ekmeleddin Ihsanoğlu, in der Vorwoche von der Opposition zum Herausforderer gekürt und für die Hälfte der Türken ein noch unbeschriebenes Blatt, erhält erstaunlich starken Zuspruch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2014)

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