Eine Militär- und Modeparade auf dem Roten Platz

(c) AP (Grigory Dukor)
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Die lauten Salven am „Tag des Sieges“ verhindern, dass die Kriegstraumata nach 63 Jahren aufgearbeitet werden.

Je größer der zeitliche Abstand zur Perestrojka, umso sowjetischer wird's: Zum 63. Jahrestag des Sieges über das Hitlerregime hat Russland am 9. Mai seine Arsenale wieder weit geöffnet. Erstmals seit dem Ende der Sowjetunion ließ man schweres Kriegsgerät über den Roten Platz vor der Kremlmauer rollen. Panzer und Raketenwerfer zierten die Parade, auch Kampfflugzeuge und mobile Abschussrampen für Atomraketen. Dazu marschierten 8000 Soldaten auf.

Die Siegesfeiern in diesem Jahr waren gewissermaßen der Höhepunkt einer dreitägigen Festreihe. Am Mittwoch war Dmitrij Medwedjew als Staatspräsident inauguriert worden, tags darauf übernahm sein Ziehvater Wladimir Putin den Regierungsvorsitz. Die pompöse Militärparade sollte demonstrieren, dass Russland unter der Führung dieses Duos stark dasteht, Selbstvertrauen gewonnen hat und auch in Zukunft auf Augenhöhe mit dem Rest der Welt kommunizieren will. 70 Prozent der Bevölkerung goutieren laut Umfrageinstitut WZIOM die militärische Machtdemonstration.

Der 42-jährige Medwedjew hat die Modernisierung des Landes zum Ziel erklärt. Während sich also die Inszenierung der Militärparade mit dem jugendlichen Gesicht des Staatschefs schlug, deuteten die neuen Uniformen der Militärs auf künftige Frische. Der arrivierte Modemacher Walentin Judaschkin hatte den Staatsauftrag über 2,7 Mio. Euro erhalten. Judaschkin ist Lieblingsdesigner von Swetlana Medwedjewa und mit der neuen First Lady befreundet.

Wieder mehr Geld fürs Militär

Das Entwicklungskonzept der Staatsführung sieht vor, dass die russische Armee bis 2020 zu den fünf modernsten Streitkräften der Welt gehört. Nach dem Plan des Verteidigungsministeriums sollen die Militärs sukzessive besser bezahlt werden und so beizeiten zur wachsenden Mittelschicht gehören. Experten zweifeln an der Finanzierbarkeit.

Unabhängig davon freilich bleibt der Tag des Sieges ein Zentralereignis im russischen Kalender und Nationalbewusstsein. Drei Viertel der Russen feiern diesen Tag laut dem Umfrageinstitut Lewada-Centr. „Die Lehren von 1945 haben kein Ablaufdatum“, sagte Medwedjew. „Die Weltgemeinschaft muss sich zusammenschließen, um das Wachsen neuer, schrecklicher Bedrohungen zu verhindern.“ Und an seine Landsleute gerichtet: „Es ist der Tag der Einheit verschiedener Generationen – unter dem Banner des historischen Sieges.“

In der Tat – und in Ermangelung anderer zivilgesellschaftlicher Bindemittel – trägt der Sieg über den Faschismus als Hauptpfeiler die Struktur der nationalen Identität.

Der ungeheure Preis des Sieges

„Für den schwierigen Alltag der Kriegsgeneration aber wurde bisher keine Sprache gefunden. Das gründet in der Haltung, das Ganze an die Spezialisten zu delegieren, oder im tiefen Zynismus, der jede moralische Bewertung verhöhnt“, meint der Chef des Lewada-Centr, Lew Gudkow, der sich als einer der wenigen mit Russlands Erinnerungsarbeit beschäftigt und schon in den 1970er-Jahren im tiefen Russland der nationalen Befindlichkeit nachspürte: „Ich habe erlebt, dass eine Gruppe von Frauen bei der Erwähnung des Krieges hysterisch zu heulen begann. Die Erinnerung an den ungeheuerlichen Preis dieses Sieges nämlich, das Massenleiden mit 27 Millionen Toten, wurde in das Unterbewusstsein verdrängt. Nie wurde reflektiert, warum der Preis so hoch war und was Ursache und wer Initiatoren des Krieges waren.“

Die Aufarbeitung der eigenen Kriegs- und Geschichtstraumata aber wird durch jährlich lautere Salven übertönt.

LEXIKON

Tag des Sieges. Am 9. Mai gedenkt Russland alljährlich des Sieges über das Hitler-Regime im Zweiten Weltkrieg. Erstmals seit Sowjetzeiten fand aus diesem Anlass heuer wieder eine große Militärparade in Moskau statt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2008)

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