Gaza-Krise: Die Anatomie einer Eskalation

(c) APA/ABIR SULTAN
  • Drucken

Bis vor Kurzem verhandelten Israelis und Palästinenser. Nun stehen sie am Rand eines neuen Bodenkrieges im Gazastreifen. Es gibt bereits Dutzende Tote.

Wien. Gaza müsse in die Steinzeit zurückbefördert werden: Unter diesem Titel forderte die Zeitung „Israel Hayom“, die Premier Benjamin Netanjahu nahesteht, am Mittwoch eine massive, „einer Dampfwalze gleichende“ Bodenoffensive im Gazastreifen. Am Ende dürfe die radikalislamische Hamas nur mehr in der Lage sein, Steine zu werfen.

Zunächst beschränkte sich Israel allerdings auf eine massive Ausweitung der Luftschläge: Alle paar Minuten würde der Gazastreifen von Einschlägen erschüttert, berichtete die Nachrichtenagentur Reuters. Örtliche Krankenhäuser gaben die Zahl der Todesopfer seit Dienstagnachmittag mit 40 an. 550 mit der Hamas in Verbindung stehende Ziele seien angegriffen worden, darunter Raketenbasen, Waffenlager und Kommandozentralen, gab Israels Militär bekannt.

In umgekehrter Richtung hielten militante Palästinenser ihren Raketenbeschuss unvermindert aufrecht. 225 Geschosse wurden in Israel verzeichnet, 40 vom Abwehrsystem Iron Dome abgefangen, darunter erneut eine Tel Aviv ansteuernde Rakete. Auch auf den Atomreaktor Dimona in der Negev-Wüste wurden drei Raketen gefeuert. In Tel Aviv und in Jerusalem heulten die Sirenen. Bis zum Abend wurden in Israel keine Todesopfer gemeldet. Zweieinhalb Monate nachdem die von US-Außenminister John Kerry mit enormem Einsatz und ebensolcher Erfolglosigkeit geführten Friedensgespräche abgebrochen wurden, droht ein neuer Krieg im Gazastreifen.

Es war eine Eskalation in vier Stufen:

1) Aufnahme der Hamas in die Regierung führt zur Eiszeit zwischen Israel und Ramallah.

Am 2. Juni hat sich das Verhältnis Israels zur Palästinensischen Autonomiebehörde auf einen Schlag signifikant verschlechtert: Präsident Mahmoud Abbas gelobte die neue Einheitsregierung aus seiner gemäßigten Fatah und der radikalislamischen Hamas an. Israel hat diese Regierung mit einem Boykott belegt, da es – wie die USA und EU – die Hamas als Terrororganisation einstuft. Jerusalem hat aber in der Folge die Einheitsregierung für den anfangs noch sporadischen Raketenbeschuss aus Gaza an den Pranger gestellt.

2) Drei Talmudschüler werden nahe Hebron im Westjordanland entführt.

Netanjahu machte Abbas auch persönlich verantwortlich für das Schicksal dreier entführter Schüler: Gilad Shaer, Naftali Fraenkel (beide 16) und Eyal Yifrah (19) waren zuletzt an einer Bushaltestelle in der Siedlung Gush Etzion nahe Hebron gesehen worden. Israel beschuldigte drei Tage später die Hamas der Täterschaft. Es folgte eine Verhaftungswelle, bereits am 16. Juni deutete Generalstabschef Benny Gantz eine größere Militäraktion an: „Wir bereiten uns auf eine breite Operation vor. Unser Ziel ist es, die Jungs heimzubringen – und der Hamas so wehzutun, wie es geht.“ Zunächst gab es wechselseitige Nadelstiche: Aus dem Gazastreifen wurden vereinzelt wieder Raketen auf Israel abgefeuert, dessen Luftwaffe reagierte mit punktuellen Angriffen. Gleichzeitig kam es infolge der Razzien im Westjordanland immer häufiger zu blutigen Zusammenstößen mit Todesopfern aufseiten der Palästinenser (am 20. Juni etwa wurde ein 15-Jähriger erschossen). Sukzessive nahmen die Dichte der Raketenangriffe und die Heftigkeit der israelischen Reaktion zu, bis Netanjahu am 30. Juni drohte, in Gaza einzumarschieren. Sein Außenminister, Avigdor Lieberman, forderte ohnehin die militärische Besetzung des Gebietes.

3) Die Leichen der Schüler werden gefunden, ein junger Palästinenser aus Rache ermordet.

Nur Stunden nach Netanjahus Drohung gab die Armee bekannt, man habe die Leichen der drei Schüler gefunden – unter einem Steinhaufen auf einem Feld bei Hebron. Die Antwort fiel massiv aus. Noch in der Nacht griff die Luftwaffe Dutzende Ziele im Gazastreifen an. Gleichzeitig kochte in der Bevölkerung die Wut hoch: In Jerusalem zogen hunderte Menschen durch die Straßen und riefen Parolen wie „Tod den Arabern“.

Am nächsten Morgen fand man die Leiche eines 16-jährigen Arabers. Mohammed Abu Khdeir war bei lebendigem Leibe verbrannt worden, nachdem er in einem Vorort von Jerusalem in ein Auto gezerrt worden war. Die Polizei tippte auf jüdische Extremisten und nahm bereits am 6. Juli sechs Verdächtige fest, die zum Teil bereits gestanden haben. Infolge des Leichenfunds kochte seitens der Palästinenser die Wut über, Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften in Ostjerusalem häuften sich.

4) Die Hamas vervielfacht ihre Angriffe, Israel schlägt massiv zurück.

Anfang dieser Woche eskalierte die Lage völlig: Schon in der Nacht auf Montag gingen 33 Raketen und Granaten auf Israel nieder – das ist mehr als in der zweiten Junihälfte, Montagabend waren es laut dem israelischen Fernsehen 60 in einer Stunde. Israel verstärkte im Gegenzug seine Luftangriffe massiv, und diesmal gab es auch zahlreiche Todesopfer. Die Regierung berief zudem 40.000 Reservisten ein und ließ Vorbereitungen für eine Bodenoffensive treffen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.07.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.