Farkhunda Naderi: „Frauen müssen Islam selbst interpretieren“

„Die Regierung kann das Kopftuch weder verbieten noch aufzwingen“: die afghanische Abgeordnete Farkhunda Naderi.
„Die Regierung kann das Kopftuch weder verbieten noch aufzwingen“: die afghanische Abgeordnete Farkhunda Naderi.(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Die afghanische Abgeordnete Farkhunda Naderi über die Dominanz von Männern, die Macht der Burkaträgerinnen und warum jede Frau anziehen sollte, was sie möchte.

Die Presse: In letzter Zeit tauchen in sozialen Medien immer wieder Bilder auf, die afghanische Frauen der 1920er- und 30er-Jahre zeigen: elegant gekleidet, auch mit kurzen Röcken, im Arbeitsleben fotografiert. Und es gibt die zeitgenössischen Bilder von Frauen in Burka, die sich so eingeprägt haben, dass wir über die alten Bilder erstaunt sind.

Farkhunda Naderi: Leider haben drei Jahrzehnte Krieg in Afghanistan die Errungenschaften und die Mentalität unseres Volkes zerstört. Daher braucht Afghanistan auch mentalen Wiederaufbau. Gewalt ist nicht die Kultur von Afghanistan, aber gerade das Taliban-Regime hat unser Bild in der Welt geprägt. Was Afghanistan passiert ist, kann jedem Land passieren. Blicken wir 30 oder 40 Jahre zurück: Das Leben der Frauen war viel fortschrittlicher als heute. Egal, wie fortschrittlich das Land ist, es ist vor solchen Entwicklungen nicht gefeit. Man kann Jahrhunderte zurückgeworfen werden – wir erleben das momentan. Für uns ist es auch frustrierend, denn überall hören wir schlechte Dinge über Afghanistan: Terrorismus, Drogen, Armut.

Nach wie vor ist Afghanistan verschiedenen Untersuchungen zufolge einer der schlimmsten Orte, an denen eine Frau leben kann.

Die Probleme für die Frauen haben nicht mit den Taliban begonnen. Menschenrechtsverletzungen gab es bereits davor. Aber damals hat die Welt noch nicht auf Afghanistan geschaut und die Situation erkannt. Oder es wurde gesagt: Das ist ein nationales Problem, das sollen sie selbst lösen. Afghanistan war bereits sehr schwach, wodurch es die Taliban leicht hatten, an die Macht zu kommen.

Sie sagen, dass die eigentliche Macht in Afghanistan im Obersten Gerichtshof zu finden ist.

In unserer Verfassung steht, dass kein Gesetz die islamischen Prinzipien verletzen darf. Das heißt, die Verfassung wird maßgeblich vom Obersten Gerichtshof interpretiert.

Und das machen nur Männer.

Das ist der Punkt. Wenn einer zum Beispiel sagt: „Die Partizipation von Frauen im Parlament ist nicht islamisch“ – dann ist das so. Frauen wissen nicht, was ihre Rechte und Pflichten sind. Es waren immer Männer, die gläubigen Frauen gesagt haben, was richtig und was falsch ist. Wenn eine Frau im Obersten Gerichtshof säße, würde sich die Tür für afghanische Frauen öffnen, islamisches Recht für sich selbst zu interpretieren.

Wie können wir eigentlich männliche und weibliche Interpretation der Religionsausübung unterscheiden?

Ich als muslimische Frau glaube, dass wir viele Rechte im Islam haben. Leider wurden aber die Frauen geschwächt und immer von Männern für ihre eigenen Vorteile ausgenutzt. Häusliche Gewalt ist sicher auch eine Folge dieser Fehlinterpretation. Die Lösung ist: Frauen brauchen ihre eigenen Quellen. Je mehr wir sie über den Islam aufklären, desto mehr Macht geben wir ihnen. Dann können sie den Männern sagen: „Das, was du sagst, ist nicht wahr.“

Als eine muslimische, progressive Afghanin: Was denken Sie, wenn sie die Burka sehen?

Ich habe die Burka nie getragen, habe aber eine enge Beziehung zu ihr. Hat jemand im Ausland nach meiner Herkunft gefragt, fiel immer das Wort „Burka“. Ich habe versucht, zu erklären und zu verteidigen: Nein, nicht alle tragen eine Burka. Das war vor allem zur Zeit des Taliban-Regimes.

Ist es nicht paradox, dass gerade die Außenwelt die Burka zu einem Identitätsfaktor für Sie gemacht hat, obwohl Sie keine Beziehung dazu hatten?

Ich habe die Burka sogar während meiner politischen Kampagne aufgegriffen. Mein Slogan war: „Burka – das Fenster zur Macht“. Damit meinte ich: Geben wir diesen Frauen Bildung, damit das kleine Fenster vor ihren Augen größer wird. Meine Kampagne war sehr kontroversiell, Journalisten sind an mir verzweifelt. Sie haben geglaubt, ich will die Burka zurückbringen.

Stattdessen wollten Sie die Burka nur nicht ganz abschaffen?

Ich kann nicht jeder Frau sagen, sie soll so sein wie ich. Ich muss ihnen so helfen, wie sie sind. Wenn wir ihnen die Burka nehmen, haben sie dann mehr Essen auf dem Tisch? Mehr Geld? Sind sie gesünder? Ich teile die Burkaträgerinnen in zwei Gruppen: Die einen tragen sie aus Überzeugung, die andere tragen sie, weil sie sich auf der Straße sicherer fühlen.

Und das finden Sie nicht traurig? Ist nicht gerade die Burka das auffälligste Symbol für die männliche Interpretation des Islam?

Sehr traurig sogar. Aber ich wiederhole mich: Einer Afghanin zu sagen, sie soll die Burka ablegen, löst nicht das Problem. Sie wird das als Angriff gegen sie, ihre Familie und ihr Leben sehen und dagegen ankämpfen anstatt Hilfe zu akzeptieren.

In Österreich wird immer wieder darüber debattiert, ob ein Burkaverbot eingeführt werden soll. Es gibt zwar kaum Burkaträgerinnen, aber ein Argument lautet: Die Burka ist Symbol für die Unterdrückung der Frauen – und das wollen wir nicht.

Das ist kompliziert. In einer entwickelten Demokratie muss es einer Frau möglich sein, ein Kopftuch zu tragen. Die Regierung kann ihr das nicht verbieten, genauso kann die Regierung den Frauen das Kopftuch nicht aufzwingen.

Erstens: Wie soll die Regierung oder die Zivilgesellschaft kontrollieren, ob eine Frau das Kopftuch freiwillig trägt? Zweitens: Es gibt ja einen eklatanten Unterschied zwischen Kopftuch und Burka.

Das meine ich, wenn ich sage, es ist kompliziert. Bei der Burkadebatte verstehe ich das Argument der Sicherheit und der Schwierigkeiten bei der Identifizierung. Burka und Kopftuch zeigen die Diversität, die es innerhalb dieser Religion gibt. Jede Frau hat das Recht zu entscheiden, was sie trägt oder was sie nicht trägt.

ZUR PERSON

Farkhunda Naderi (33) wurde in Afghanistan geboren, Schulbesuch in England, Jusstudium in Taschkent, Usbekistan. Seit dieser Zeit ist sie politisch aktiv, vor allem im Bereich der Frauen- und Menschenrechte. Naderi sitzt seit vier Jahren im afghanischen Equivalent zum Bundestag und vertritt die Provinz Kabul.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.07.2014)

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