Gaza: Eskalation ohne Ausweg

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Eine Feuerpause aus humanitären Gründen dauerte nur wenige Minuten. Israels Premier Netanyahu will die Bodenoffensive ausweiten. Die Opferzahl stieg auf mehr als 400 Tote an.

Es war der blutigste Tag seit Beginn des jüngsten Nahost-Kriegs zwischen Israel und den militanten Gruppen im Gazastreifen vor knapp zwei Wochen. Die Opferzahl stieg auf mehr als 400 Tote, allein am Sonntag kamen rund 100 Menschen ums Leben. Und auch die Rhetorik aufseiten der Palästinenser wurde aggressiver. Palästinenser-Präsident Mahmoud Abbas warf Israel „Massaker“ vor und ordnete eine dreitägige Staatstrauer an, die Arabische Liga sprach von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und die palästinensische Politikerin Hanan Ashrawi von „Staatsterrorismus“.

Dabei sollten am Sonntag wenigstens für zwei Stunden die Waffen schweigen, doch die Pause endete schon nach wenigen Minuten, als die Hamas erneut das Feuer eröffnete. Israel war der Bitte des Internationalen Roten Kreuzes auf eine temporäre Feuerpause nachgekommen, damit Verletzte aus dem Viertel Schudschajah im Osten der Stadt Gaza in die Krankenhäuser gebracht und die Toten, die in den staubigen Straßen herumlagen, abtransportiert werden können. Die Soldaten hatten die Region vorher zur militärischen Sperrzone erklärt und Krankenwagen an der Durchfahrt gehindert.

Medizinische Notlage

Stundenlang dauerte die Bergung der Opfer, die zum Teil unter Trümmern verschüttet lagen, weil die Rettungswagen nicht schneller durchkamen. Die medizinische Notlage spitzt sich zu. Schon seit Tagen klagen die Krankenhäuser über Mangel an Verbandszeug, Antibiotika und Betäubungsmittel. Die Ärzte kommen dem Andrang der neuen Verletzten kaum nach. Mehr als 200 Einlieferungen zählte das Schifa-Krankenhaus bis Sonntagmittag. In den Kühlräumen sei nicht genug Platz für die Toten. Jeder Tag bringe neue Rekorde an Toten und Verletzten, meinte Ashraf al-Kidra, Sprecher des palästinensischen Gesundheitsministeriums.

„Zwischen sechs und sieben Uhr war es am schlimmsten“, berichtet die Palästinenserin Maram Humaid telefonisch aus Gaza. Die 23-Jährige ist die älteste von acht Geschwistern. Rings um das Haus gebe es Bombardierungen von der Luftwaffe, in etwas größerer Entfernung seien auch die Kanonen der Panzer zu hören. „Die Leute sind auf der Flucht beschossen worden“, sagt Humaid. Deswegen, so vermutet sie, sei die Zahl der Zivilisten unter den Opfern so hoch. Viele Familien seien dazu gezwungen, „schwache und alte Angehörige zurückzulassen, um sich selbst in Sicherheit zu bringen“.

Anlaufstellen sind die Krankenhäuser und die Schulen der UNRWA (UN-Hilfe für palästinensische Flüchtlinge). Weit über 60.000 Palästinenser sind auf der Flucht. Schon jetzt seien die Schulen völlig überfüllt, doch einen anderen Ausweg gibt es nicht. Die Grenzübergänge in beide Richtungen, nach Israel und Ägypten, sind geschlossen.

Drei Tage schon warnte die israelische Armee die Bevölkerung in Schudschajah, wo rund 80.000 Menschen leben, vor geplanten Angriffen. Die meisten Menschen blieben trotzdem in ihren Wohnungen. Maram Humaid berichtet von einem SMS, das ihre Freunde aus dem Viertel Schudschajah von der israelischen Armee erhalten hätten. „Ihr werdet etwas erleben, was Ihr noch nie gesehen habt“, habe es geheißen.

Am Wochenende kam es unter den israelischen Truppen zu den ersten Gefallenen. Fünf Soldaten wurden gestern zu Grabe getragen. Insgesamt gab die Regierung das Okay für die Mobilmachung von 68.000 Reservisten. Erklärtes Ziel der Bodenoffensive ist die Zerstörung geheimer Tunnel, durch die Terroristen nach Israel kommen könnten, um Anschläge auszuüben oder um Israelis zu entführen. Der israelische Soldat Gilad Schalit, der fünf Jahre lang in Geiselhaft von der Hamas festgehalten wurde, war durch einen solchen Tunnel nach Gaza gebracht worden.

Netanyahu setzt seinen Kurs fort

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu lässt kein Zeichen für eine baldige Entspannung des Konflikts erkennen. Er hat eine Ausweitung der Bodenoffensive im Gazastreifen angekündigt. "Wir werden nicht aufhören, bis alle Ziele erreicht sind", sagte Netanyahu am Sonntag in Tel Aviv. Die radikal-islamische Hamas sei selbst für die vielen Toten unter den Zivilisten in dem Palästinensergebiet verantwortlich.

"Israel hat diesen Kampf nicht selbst gewählt, er ist uns aufgezwungen worden", sagte der Regierungschef. Das Vorgehen gegen die Tunnel und Raketen der Hamas sei lebensnotwendig für die Sicherheit der Bürger Israels. Es könnten noch "schwere Tage" bevorstehen, sagte Netanyahu.

Die Zerstörung eines Großteils der Tunnel im Gazastreifen kann laut israelischem Verteidigungsminister binnen zwei bis drei Tagen abgeschlossen sein. "Uns stehen noch lange Tage des Kampfes bevor", sagte Moshe Yaalon am Sonntag in Tel Aviv. Die im abgesperrten Gazastreifen herrschende Hamas zahle "einen sehr hohen Preis und wir versetzen ihr weiter harte Schläge", sagte Yaalon. Israel bedaure den Tod jedes Zivilisten im Gazastreifen. Die Hamas trage jedoch die Verantwortung für das Blutvergießen.

Diplomatie ohne Erfolg

Israel bleibe keine Wahl, als den Terror „effektiv zu bekämpfen“, resümierte Ex-Sicherheitsberater Uzi Dayan bei einer Pressekonferenz in Yad Mordechai, zwei Kilometer nördlich des Gazastreifens. Aus der Ferne waren pausenlos die dumpfen Kanonenschüsse zu hören. Israel könne sich nicht der Willkür der Hamas aussetzen, meinte Dayan. Er plädiert für Massenverhaftungen, um die Gefangenen im Gegenzug für einen Waffenstillstand auszutauschen. „Jeder, der auf der Gehaltsliste der Hamas steht, sollte festgenommen werden.“ Dayan tritt für einen Sturz der Hamas-Führung ein: „Jeder wird sich erinnern, was mit der Hamas-Regierung passierte.“

Die diplomatischen Bemühungen verliefen derweil im Sand. In Katar wollte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon Palästinenser-Führer Abbas treffen, auch ein Gespräch Abbas' mit Hamas-Chef Meshal war geplant. Und US-Außenminister John Kerry kündigte eine baldige Nahost-Mission an. Er sei jederzeit bereit, einen neuen Vermittlungsversuch zu starten, erklärte er in Washington.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.07.2014)

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