Nahost-Konflikt: "Die einfachen Leute haben kein Problem miteinander"

BRITAIN MIDEAST ISRAEL PALESTINIANS PROTESTS
BRITAIN MIDEAST ISRAEL PALESTINIANS PROTESTSAPA/EPA/ANDY RAIN
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Wer ist woran schuld? Und was ist das Gemeinsame? Die Wiener Thomas Stern und Naser Abuhelou diskutieren über die israelische und palästinensische Sicht auf den Nahost-Konflikt.

Wie nehmen Sie aus der Ferne, aus Wien, diesen Krieg wahr? Sind Sie persönlich betroffen?

Naser Abuhelou: Wenn meine Familie im Westjordanland aus dem Fenster schaut, sieht sie die Raketen, die aus Gaza abfeuert werden, und die Abwehrraketen aus Israel. Ein Kind unserer Nachbarn wurde durch den Einsatz von Tränengas verletzt, auch viele Fensterscheiben wurden zerstört.

Thomas Stern: Ich habe viele Verwandte in Israel, Großcousins – Cousins meines Vaters, die 1939 über die Donau abgehaut sind. Sie leben in Jerusalem, in Tel Aviv und in der Nähe von Hadera. Die Hamas schießt derzeit völlig wahllos durch die Gegend. Wenn Alarm ist, läufst du in den Keller oder in den Schutzraum. In Tel Aviv war zuletzt sechs- oder siebenmal Alarm. Das heißt, die Leute sind vielleicht eine halbe Stunde auf der Straße, und dann schon wieder weg.

Abuhelou: Der Konflikt hat sich verändert. In Gaza können die Raketen der Hamas fast ganz Israel erreichen, obwohl sie im Vergleich zu Israels Raketen kaum Wirkung haben. Im Westjordanland geht es in den Straßen auch schon los. Man weiß nicht, wie das endet. Für mich ist das Beängstigende daran die religiöse Ebene: „Wir, die Muslime“ gegen „Wir, die Juden“. Ich halte das für sehr gefährlich, und ich hoffe, dass sich das nicht entzündet.
Stern: Das hat sich alles schon sehr gewandelt. Ich erinnere mich, dass wir vor Jahrzehnten noch nach Ostjerusalem (dem arabischen Teil) gefahren sind, um dort zu essen.
Abuhelou: Ich weiß noch, 1995 sind viele Israelis zu einem Konzert auf den Campus der Bir-Zeit-Universität nach Ramallah gekommen – ganz ohne Security. Man sieht: Mit einfachen Leuten auf beiden Seiten kann man reden, die haben kein Problem miteinander. Das größte Problem liegt in der israelischen Politik. (Anm.: Den Außenminister Avigdor) Lieberman würde man in Europa als Faschisten ansehen. Da gibt es für mich keine Diskussion.
Stern: Über den Lieberman will ich auch nicht diskutieren. Nur eines muss ich schon sagen: Lieberman ist mir immer noch lieber als die Hamas. Denn Lieberman ist noch in einem rechtsstaatlichen Rahmen eingebettet.

Lieberman schlägt eine neuerliche Besetzung des Gazastreifens vor, die Regierung scheut davor zurück.

Abuhelou: Gaza ist jetzt ein Gefängnis. Wie sollen die Menschen dort leben? Man schaltet den Strom ab, die Infrastruktur wird regelmäßig und absichtlich bombardiert; die Menschen dürfen keine Baustoffe oder Treibstoff kaufen, weil sie laut Israelis Bomben bauen könnten.

Stern: Offensichtlich hat die Hamas Raketen, Tunnel und Bunker gebaut, offensichtlich hat sie genug Waffen. Wie viele Waffen und was für welche hätten sie, wenn wir die Grenzen offen gelassen hätten?

Abuhelou: Sprechen wir über die Besatzung. Ich habe im Westjordanland gelebt, das heißt, ich habe versucht, dort zu leben. Wo meine Eltern wohnen, triffst du mehr Siedler als Palästinenser. In der Rush Hour werden die Straßen für Palästinenser gesperrt. Du musst auf die Seite fahren und warten, bis die Israelis passiert sind. Wir wollen nur Frieden – aber wie?
Stern: Da hast du völlig recht, und das ist auch ein guter Grund, nach Österreich zu kommen. Österreich ist eine Insel der Seligen – bis vor Kurzem. Der Konflikt wird ja auch hierher getragen. Denn der türkische Premier Erdoğan hat seine Liebe zu Gaza entdeckt.
Abuhelou: Erdoğan schürt den Hass, er nutzt den Konflikt für seine Politik. Stern: Wir haben das auch bei den Demonstrationen in Wien gesehen: Erdoğan hat nicht nur in der Region einen großen Einfluss, sondern auch in Europa – wegen seiner Mobilisierungskraft unter den Türken. Er hängt dem Traum des Osmanischen Reichs nach, bis 1917 war die Region ja ein Teil davon.


Wie stehen Sie zu der antiisraelischen, antisemitischen Hetze in Europa, etwa in Paris? Haben Sie das Gefühl, dass der Konflikt nun stärker in Europa angekommen ist – mit verstärkendem Faktor Türkei?

Abuhelou: Ich bin völlig gegen solche Hetze. Da geht es nicht um die palästinensischen Streitfragen. Wir haben einen Konflikt mit Israel, aber das hat nichts zu tun mit dieser Welle an religiösem Hass in Europa. Dabei machen ja auch die Radikalen in Österreich mit.
Stern: Früher gab es palästinensische Solidaritätsdemonstrationen, getragen auch von linken Organisationen, mit 500 oder 1000 Teilnehmern. Da ist in Wahrheit nie etwas passiert. Das hat sich qualitativ und quantitativ sehr geändert. Sichtlich gesteuert und motiviert durch die Auslandsorganisationen Erdoğans kommen massiv andere Gruppen hinein.

Herr Abuhelou, ist die Unterstützung der Türkei den Palästinensern willkommen, oder wollen Sie deren „Hilfe“ gar nicht?

Abuhelou: Ich kann es nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, aber ich glaube, Mahmoud Abbas (der Palästinenser-Präsident; Anm.) kann Erdoğan nicht mehr sehen. Im Westjordanland wissen die Palästinenser, dass Erdoğan nur schreit. Er sagt das nur, um die Präsidentenwahl in der Türkei zu gewinnen.

Herr Stern, erlebt Österreich einen neuen Antisemitismus? Wie erleben Sie das persönlich? Sind Sie mit Hass konfrontiert?

Stern: Wir leben alle in unserem Wattebausch. Ich bin ja behütet in meiner Umgebung von Freunden, Kunden und wohlmeinenden Menschen. Die Demonstrationsbewegung umfasst dagegen ganz andere Bevölkerungsschichten, die ihre innere Frustration ausleben. Das wird brutaler, gewalttätiger und direkter – schauen Sie sich das an (zeigt ein Internetvideo über eine Szene bei der Demonstration in Wien: „Heute die Palästinenser und morgen die anderen. Die Juden werden nie aufhören, diese Welt erobern zu wollen.“)
Abuhelou: Ich finde das grauslich. Wir Palästinenser haben damit aber nichts zu tun. Eigentlich sind wir Opfer des Antisemitismus in Europa – historisch gesehen. Die Europäer wollten die Juden nicht, darum wollten sie als Alternative eine Lösung in Palästina.

In Salzburg, in Bischofshofen gab es vergangene Woche einen Zwischenfall bei einem Fußballmatch des israelischen Vereins Maccabi Haifa. Mehrere türkische Jugendliche mit palästinensischen Fahnen stürmten den Platz.

Stern: So einen Vorfall hätte man sich früher gar nicht vorstellen können.

Abuhelou: Die Leute, die das getan haben, haben null Ahnung vom Gaza-Konflikt. Wahrscheinlich würden sie auch mich auf der Straße zusammenschlagen. Die israelische Fußballmannschaft Beitar Jerusalem verbreitet bei Fußballspielen rassistische Aussagen gegen Palästinenser, und das wird dort toleriert.

Stern: Ich war vor etlichen Jahren bei einem Fußballspiel Österreich – Israel und da hat es auch gebrodelt. Das waren aber weder Palästinenser noch Türken, sondern Österreicher. Da hat man gemerkt, was da unter der Oberfläche vorgeht. Aber es geht hier ja nicht um Fußball, sondern mehr: die Desintegration der Gesellschaft. Das Beispiel Frankreich zeigt: Radikalismus und Islamismus nehmen zu. Und das ist ein Prozess, der schon länger dauert, denn die Leute, die jetzt auf die Demos gehen, müssen schon früher mobilisiert worden sein. Wir haben jetzt eine neue Situation. Denn die österreichische Gesellschaft hat zwar eine Tradition des Antisemitismus – es gab immer alte und junge Nazis – aber es gab auch eine Art Filter. In den seltensten Fällen wurde offen etwas Antisemitisches gesagt. Jetzt aber sprudelt es wie selbstverständlich aus den Leuten heraus. Die Frage ist: Was macht Österreich dagegen?

Wie sehen Sie denn die Rolle Österreichs in dem Konflikt?

Abuhelou: Ich verstehe es nicht. Wenn ein Israeli getötet wird, wird so viel darüber gesprochen und geschrieben. Die getöteten Palästinenser stellen die Medien dagegen als Terroristen dar, dabei sind es oft Kinder.

Das heißt, in Ihren Augen sind die österreichischen Medien klar pro Israel?

Abuhelou: Definitiv.

Stern: Ich sehe das natürlich genau umgekehrt. Ich habe das Gefühl, dass dauernd über die Opfer in Gaza berichtet wird, aber sich keiner die Mühe macht zu erklären, was tausende Raketen auf Israel bedeuten. Bei manchen Zeitungen habe ich wirklich den Eindruck, sie sind ein palästinensisches Kampforgan. Aber da wir beide das vice versa so sehen, berichten die Medien vermutlich in Summe ausgewogen.

Haben Palästinenser und Juden in Wien eigentlich Kontakt zueinander?

Abuhelou: Ich verstehe ganz gut Hebräisch, insofern geht es mir wie einem Österreicher, der in Südamerika jemanden Deutsch sprechen hört. Ich fühle mich daheim, wenn ich Hebräisch höre. So geht es vielen, die direkt von dort sind. Und wenn ich Falafel esse, gehe ich in ein israelisches Geschäft, weil sie dort besser sind. Und dann redet man natürlich auch. In Palästina hat man ja auch ständig geschäftlich miteinander zu tun.

Wenn man Ihnen zuhört, könnte man vermuten: Sie beiden kämen recht schnell zu einer Friedenslösung

Stern: Wir sitzen hier beide gemütlich in der Hainburger Straße, da kann man leicht Lösungen finden. Dort vor Ort ist die Situation anders, die Lage in der ganzen Region – auch rundum – ist angespannt und gefährlich.

Wie würde Ihre Lösung aus der Hainburger-Straße-Perspektive denn aussehen?

Stern: Der Konflikt wäre leichter zu lösen, wäre er nur ein israelisch-palästinensischer. Ist er aber nicht und je länger er dauert, desto mehr werden Interessen von außen hineingetragen – von vielen Seiten, vor allem vom Iran. Ich glaube, dass ein gemeinsamer wirtschaftlicher Erfolg der Schlüssel ist. Wenn man gemeinsam eine wirtschaftliche Zukunft hat, wird man sich eher nicht die Schädel einschlagen. Aber ich verstehe, dass es derzeit für die Palästinenser deprimierend ist: Die neue Autobahn in Israel etwa geht ganz nah am Autonomiegebiet vorbei. Die sehen von drüben, von den Hügeln die Autos, die prosperierende israelische Wirtschaft und denken sich vermutlich: „Diese Arschlöcher.“ Wenn es ihnen aber selbst gut ginge, würden sie anders denken.

Aber solange die Hamas bombt, wird das schwer gehen.

Abuhelou: Ich bin nicht für die Hamas, aber man kann nicht zwei Millionen Menschen in einen Käfig sperren. Ehrlich, ein Tier lebt besser als ein Palästinenser in Gaza und im Westjordanland. Ich verstehe auch nicht, warum die Amerikaner keinen Druck auf Israel machen, damit es zu einer Lösung kommt. Die USA können ja sonst auch die Welt verändern.

Stern: Was sollen die USA bitte machen, wenn die Hamas trotzdem immer wieder Raketen schießt?

Abuhelou: Die Menschen dort haben einfach nichts mehr zu verlieren.

Stern: Ja, und genau das ist das Problem. Die Wirtschaft in Gaza besteht nur aus Hilfsgeldern und ist vor allem darauf ausgerichtet, politische Aktivisten zu unterstützen.

Abuhelou: Die Wirtschaft in Gaza wurde systematisch umgebracht. Es gäbe genug zu exportieren: Blumen, Orangen. Aber wir dürfen nicht. Und die militärischen Sperren machen vernünftige Landwirtschaft auch unmöglich.

Stern: Ja, es ist nicht leicht, dort zu leben. Aber der Punkt ist: Bis zur Errichtung einer nicht durchlässigen Grenze gab es dauernd Anschläge in Israel. Leute aus dem Westjordanland gingen nach Tel Aviv, um in 200 Meter Entfernung von dem Hotel, in dem ich immer wohne, 20 Leute in die Luft zu sprengen. Angst war Alltag in Israel.

Abuhelou: Aber die Mauer bringt doch nichts. Jeden Tag fahren tausende Palästinenser illegal nach Tel Aviv und Hebron, um dort zu arbeiten.

Stern: Natürlich hat die Mauer etwas gebracht: Sicherheit. Wie viele Anschläge gab es denn seit der Mauer?

Abuhelou: Die gab es nicht, weil es die Palästinenser sie gar nicht wollen.

Stern: Ich sehe das leider nicht so positiv wie du. Ich glaube, hier sind wir an einem Punkt, wo wir sagen: We agree to disagree.

Abuhelou: Weil du die Angst erwähnt hast: Als ich noch ein Kind war, haben die Siedler unsere Fenster jeden Tag mit Steinen beworfen. Ich konnte nicht schlafen.

Stern: Ich habe auch schlecht geschlafen, nachdem 1981 in einer Synagoge Palästinenser Handgranaten nach mir geworfen haben. Nicht in Jerusalem, sondern in Wien. Warum hier in Wien, was verdammt habe ich damit zu tun? Aber soll ich jetzt sagen, dass alle Palästinenser Arschlöcher sind? Das sage ich nicht.
Abuhelou: Und ich war dabei, als Israelis, die als Araber verkleidet waren, meinen Onkel getötet haben. Er war ein alter Mann. Trotzdem habe ich israelische Freunde. Wurdest du damals bei dem Anschlag eigentlich verletzt?

Stern: Nein, aber andere sind gestorben, und so etwas vergisst man nicht. Wir haben alle unsere Vergangenheit.

Um ein friedliches Ende zu finden, zum Abschluss bitte eine Prognose: Wie lange dauert es, bis Frieden zwischen Israelis und Palästinensern ist?

Abuhelou: Zwanzig bis dreißig Jahre.

Stern: Der ewige Irrglaube ist, dass man Frieden formal durch irgendwelche Friedenslösungen herbeiführen muss. Es geht mehr darum, wie man den Alltag lebt. Alles andere kommt von allein.

Sie meinen, es könne nur einen Bottom-up-Frieden geben – einen von unten gelebten statt eines von oben verordneten.

Stern: Ja, Bottom-up-Friede ist ein schönes Wort.

NAHOST Aus Wiener Sicht

Naser Abuhelou (40) ist gebürtiger Palästinenser, seit 2000 lebt er in Österreich; zuvor hat er in Jerusalem gelebt. Hierher kam er zum Studium (Psychologie, Theaterwissenschaften). Ursprünglich wollte er nach sechs Monaten zurückkehren – „aber meine Mutter hat gesagt: ,Bleib hier.‘“ In Wien arbeitet er bei der Asylberatung, zuvor war er in der Entwicklungshilfe tätig. Thomas Stern (51) hat Verwandtschaft in Israel; er lebt und arbeitet jedoch in Wien, wo er eine Internetagentur betreibt.

Das Gespräch zwischen den beiden Männern sollte bewusst eines zwischen Privatleuten sein, die keinen Verein oder eine Partei vertreten. Beide kannten einander vorher auch nicht. Das Interview fand in der Redaktion der „Presse“ statt. Das erklärt auch die Anspielung im Text auf die Hainburger Straße im dritten Wiener Bezirk – das ist die Adresse der Redaktion.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.07.2014)

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