Gaza-Konflikt: „Die Menschen haben nichts mehr“

MIDEAST ISRAEL PALESTINIANS CONFLICT
MIDEAST ISRAEL PALESTINIANS CONFLICT(c) APA/EPA/MOHAMMED SABER (MOHAMMED SABER)
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Mehr als 1000 Tote, tausende Verletzte und 165.000 Flüchtlinge forderte bisher der Konflikt um Gaza. Am Wochenende nutzten viele Palästinenser die brüchige Feuerpause, um sich selbst ein Bild von der Zerstörung zu machen.

Abgerissene Gliedmaßen, zertrümmerte Schädel und Kleinkinder, die ihre Mütter aus leeren Augen anstarren. Diese Szenen aus der Kinderabteilung des Schifa-Spitals in Gaza beschreibt Marad Humaid der „Presse“. Die 23-jährige Palästinenserin nutzte die – brüchige – Feuerpause am Wochenende, um sich ein Bild von der Zerstörung zu machen.

Israel hatte Samstagabend die Waffenruhe einseitig verlängert – doch als militante Palästinenser Israel Sonntagfrüh mit Raketen beschossen, setzte Jerusalem seine Militärangriffe fort. Als sich dann zu Mittag die Hamas doch zu einer 24-stündigen Feuerpause bereit erklärte, reagierte Israels Premier Benjamin Netanjahu skeptisch: Die Hamas halte sich gar nicht daran. „Wir werden alles tun, um uns zu schützen.“

Marad Humaid beschreibt indes ein Bild des Grauens: „Im Spital lag ein zweijähriges Mädchen mit offenen Augen, obwohl es nicht mehr sehen kann“, berichtet die junge Frau am Telefon, und ein anderes Mädchen habe ein blaues, entstelltes Gesicht gehabt. „Die Mutter sagte, dass sie durch eine Explosion an die Zimmerdecke geschleudert wurde und dann direkt auf ihr Gesicht gefallen ist.“ Dabei seien der Nasen- und die Wangenknochen gebrochen.

40 Personen in einer Wohnung

Die Zahl der Toten im Gazastreifen stieg am Wochenende auf mehr als 1000 Menschen. Weit über 5000 Palästinenser sind verletzt und 165.000 suchen Zuflucht in einer Einrichtung der UNRWA, der UN-Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge. „Es werden täglich mehr“, sagt UNRWA-Sprecher Adnan Abu Hassan. 85 Einrichtungen, vor allem Schulen, stehen den Menschen zur Verfügung. „Die Leute haben nichts mehr, sie haben alles zurückgelassen.“ Nahrungsmittel, frisches Wasser und Matratzen stellte die UNO zur Verfügung. „Für Kleidung reichen unsere Ressourcen nicht.“ Nicht jeder Palästinenser auf der Flucht landet in den UN-Einrichtungen – auch Marad Humaid nicht: „Wir sind vor zehn Tagen zu meiner Tante gezogen.“ Die Wohnung liege in der Nähe des Schifa-Krankenhauses, deshalb hoffen Marad und ihre Familie, hier sicherer zu sein. 40 Menschen lebten inzwischen in der Fünf-Zimmer-Wohnung. Die Familien teilen sich eine Küche und ein Badezimmer.

Gegen zehn Uhr morgens habe es trotz Feuerpause wieder Bombardierungen gegeben. Dass die Hamas zuerst wieder geschossen habe, streitet Humaid ab. Die Soldaten hätten auch am Samstag die Waffenruhe gebrochen und auf palästinensische Flüchtlinge geschossen, die zu ihren Wohnungen zurück wollten.

„In der Straße parallel zu unserer ist heute Früh ein Haus zerstört worden“, berichtet die junge Palästinenserin. Außerdem habe es einen punktgenauen Angriff durch eine Drohne auf den TV-Sender der Hamas gegeben. „Wenn ein komplettes Haus zerstört werden soll, nehmen sie die F-16, bei einzelnen Wohnungen sind es immer Angriffe von Drohnen.“

Die Palästinenserin Huwaid ist Aktivistin auf Twitter und Facebook, wo sie auch auf Englisch schreibt. Zusammen mit ihren Geschwistern besuchte sie am Samstag das schwer umkämpfte Viertel Schedschaja, im Osten der Stadt Gaza. „Wir kannten die Bilder aus dem Fernsehen“, erzählt sie, „aber was wir dann gesehen haben, war schlimmer als alles, was wir uns vorgestellt hatten“.

Der Geruch von Blut habe sie mehrmals an den Rand der Ohnmacht gebracht. Unter den Trümmern liegen offenbar noch immer Menschen verschüttet, die bei den Kämpfen vor einer Woche starben.

Dass sich die Leute in Gaza selbst einen Eindruck von der Zerstörung verschaffen, war auch erklärtes Ziel Israels für die Feuerpause. Die zermürbenden Bilder festigten indes die Meinung Huwaids: „Die Blockade muss ein Ende haben“, sagt sie. Niemand im Gazastreifen werde einer Feuerpause zustimmen, bevor die Grenzen geöffnet werden.

„Ein anderer blutiger Tag“

Am Montag beginnt das dreitägige Eid al-Fitr, das Fest des Fastenbrechens am Ende des muslimischen Monats Ramadan. Die Leute kaufen gewöhnlich neue Kleider und Geschenke für die Kinder, und die Frauen backen. „Wir haben nichts vorbereitet“, sagt Humaid. Noch nicht einmal Süßigkeiten für die kleineren Geschwister gäbe es. Das Eid al-Fitr ist ähnlich wie Weihnachten ein fröhliches Fest. Für Humaid und ihre Familie, so fürchtet sie, wird es vermutlich „nur ein anderer blutiger Tag“.

AUF EINEN BLICK

Nach der Verkündung einer 24-stündigen Waffenruhe durch die Hamas sind die Kämpfe im Gazastreifen Sonntagnachmittag abgeflaut. Allerdings flogen auch danach noch Raketen in Richtung Israel. Israel ließ offen, ob es sich der Waffenruhe anschließt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2014)

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