In Ex-Gaddafi-Hochburgen sehnt man sich nach der "guten alter Zeit", während Islamisten von "Kalifat Tripolitanien" träumen, sagt Experte Dittmann.
Der deutsche Libyen-Experte Andreas Dittmann sieht den nordafrikanischen Staat auf dem Weg zu einem "failed state" ("gescheiterter Staat"). "Libyen entwickelt sich zu einem zweiten Syrien", sagte Dittmann. Der größte Fehler nach dem Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 sei gewesen, die vielen Milizen nicht zu entwaffnen.
Dieses entstandene Machtvakuum werde zunehmend von den Milizen ausgefüllt. "Der Konflikt dieser Gruppierungen verläuft derzeit zwischen unterschiedlichen proislamistischen und nicht-islamistischen Milizen, wobei die Regierung derzeit zwischen den Fronten steht und um ihr Überleben kämpft", erörtert der Direktor des Geographischen Instituts der Justus-Liebig-Universität Gießen.
"Die Milizen haben mittlerweile gelernt, dass sie politischen Einfluss verlieren, wenn sie ihre Waffen abgeben", so der Libyen-Experte. Eine unübersichtliche "hohe Anzahl an Milizen stehe derzeit einem schwachen Staat gegenüber", dessen Militär praktisch nicht mehr existiere. Diese hätte mit Aktionen, wie der Besetzung von Ministerien, bereits viele Zugeständnisse erreicht.
"Die libysche Regierung ist mit ihrem Vorhaben, die Milizen ins sExptaatliche Gefüge zu integrieren, beziehungsweise diese zu entwaffnen klar gescheitert", so Dittmann. "Verschiedene Regionen Libyens unterliegen praktisch nicht mehr der zentralen Ordnungsmacht." Aus vielen Gebieten gäbe es keine Nachrichten mehr, da die Regierung über diese Territorien die Kontrolle verloren habe. Diese Regionen seien zum Aufmarschgebiet vieler Banden, wie etwa Menschenhändlern geworden, "von dort aus, werden viele Flüchtlingstransporte nach Europa koordiniert", so Dittmann.
"Die guten alten Zeiten"
Die Milizen seien insgesamt sehr regional ausgerichtet und würden unterschiedliche Ziele verfolgen. In ehemaligen Gaddafi-Hochburgen sehnen sich viele Bürger beispielsweise nach den "guten alten Zeiten", da sie damals einen "privilegierten Status" innehatten. In Bani Walid konnten Ende 2012 ehemalige Gaddafi-Kämpfer die Stadt zeitweilig zurückerobern. "Die ehemaligen Gaddafi-Kämpfer spielen derzeit allerdings nur mehr eine geringe Rolle", so der Libyen-Experte.
Einer der Hauptakteure unter den Milizen sei derzeit Generalmajor Khalifa Haftar mit seiner "Nationalen Armee", welche seit Mai islamistische Gruppierung auf eigene Faust bekämpft. Die Regierung in Tripolis hat einen Haftbefehl gegen ihn und seine Kämpfer veranlasst, um die Kontrolle wiederzuerlangen - "was derzeit allerdings aussichtslos erscheint". Die Gegner des Generalmajors würden, diesem vorwerfen ein "Söldner des Westens zu sein", so der Instituts-Direktor. Er verfolge allerdings "eigene Ziele" und wolle mit der Unterstützung einiger offizieller Militärs ein autoritäres Regime, mit dem Vorbild Ägyptens, etablieren.
Das Vorgehen von Haftar habe vor allem zu einem "Zusammenrücken der unterschiedlichen islamistischen Milizen geführt", so Dittmann. Unter den zersplitterten Islamisten, darunter die salafistische Ansar al-Sharia und auch den Muslimbrüdern nahestehende Milizen, entwickle sich eine zunehmende Solidarisierung. Würden sie ihre Kräfte bündeln, wären sie "klar stärker als die anderen Milizen".
Traum vom "Kalifat Tripolitanien"
Das gemeinsame Ziel der islamistischen Gruppierungen sei neben dem gemeinsamen Kampf gegen die "Nationale Armee" auch die "Zerschlagung der staatlichen Ordnungsmacht". Viele Islamisten würden bereits von einem "Kalifat Tripolitanien" träumen - Kontakte zur Organisation "Islamischer Staat" (IS) sowie der Al-Kaida würden bereits bestehen. "Die IS träumt bereits von einer Erweiterung ihres Herrschaftsbereiches", hält Dittmann fest. Problematischer würde die Lage insbesondere mit der Rückkehr der kampferprobten Jihadisten aus Syrien und dem Irak werden. "Es besteht die reale Gefahr, dass sich Libyen zu einem Terroristenbasis-Staat entwickeln könnte."
Die Entwicklung des Konflikts hänge von der Positionierung der Nachbarstaaten ab, sagte der Nordafrika-Experte. Diese seien derzeit nur daran interessiert, ihre Grenzen zu Libyen abzusichern. Vom Westen erwarte er kein Eingreifen, nachdem die Ölversorgung derzeit ausreichend gesichert sei. Die westlichen Staaten würden deshalb wohl "in aller Ruhe abwarten". "Das primäre Ziel des Westens bleibt Öl und nicht der Demokratieexport, humanitäre Lippenbekenntnisse wurden in der Vergangenheit nur instrumentalisiert", so Dittmann.
(APA)