Sie hat keine Chance, doch das Parteiestablishment ist beunruhigt: Die Senatorin Elizabeth Warren erinnert die Demokraten an ihre gebrochenen Versprechen.
Washington. Bevor sie als Professorin in Harvard bahnbrechende Erkenntnisse über das Wesen des Konkurses in den USA gewann, bevor sie eine neue Verbraucherschutzbehörde ins Leben rief, bevor sie auf einer Welle des Volkszorns über das Bankensystem in den Senat einzog und bevor sie zum Star des linken Flügels der Demokraten wurde, war Elizabeth Warren vor allem eines: eine überzeugte Republikanerin.
„Sie war eingetragenes Parteimitglied, weil die Partei freie Märkte unterstützte, die nach ihrer Meinung unter zu viel Druck der Regierung standen“, schreibt George Packer in seinem Buch „The Unwinding: An Inner History of the New America“, für das er 2013 den National Book Award erhielt.
„Unwinding“: Auf Deutsch kann man das mit „Abspulen“ übersetzen, so, wie Garn sich nach und nach von einer Spule abrollt. Packer meint damit das ebenso langsame wie unaufhaltsame Auflösen der Gewissheiten, deren sich die amerikanische Gesellschaft in den Nachkriegsjahrzehnten von rasanter Industrialisierung und massenhaft steigendem Wohlstand so sicher waren. Gewissheiten, die nach mehr als einem Jahrzehnt stagnierender Realeinkommen, himmelhoher Gewinne für Superreichen von der Wall Street bei gleichzeitigem Schrumpfen der Mittelschicht in Trümmern liegen.
Die Kehrtwende
Auch Elizabeth Warren hat dieses Abspulen ethischer Überzeugungen hinter sich. Im Jahr 1978, als sie sich scheiden ließ und in Houston an der Universität Recht zu lehren begann, lehnte der amerikanische Kongress ein Gesetz ab, das eine neue Verbraucherschutzbehörde geschaffen hätte. Gleichzeitig machte es der Gesetzgeber leichter, in Insolvenz zu gehen. Die damals 29-jährige Warren beschloss, das Wesen des Bankrotts zu erforschen. Wieso landen Menschen vor dem Konkursrichter? „Ich war davon überzeugt, dass das lauter Betrüger waren“, sollte sie Jahre später sagen. „Ich machte mich daran, diese Leute bloßzustellen, die den Rest von uns ausnutzen.“
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Konkursrecht führte Warren zur konträren Einsicht: Die meisten Amerikaner, die Insolvenz anmeldeten, waren brave Mitglieder der Mittelschicht, die hart arbeiteten, aber letztlich zu wenig verdienten, um die Raten für ein Haus in einem der guten Viertel ihrer Städte berappen zu können, damit ihre Kinder dort in anständige Schulen gehen konnten. Finanzieller Ruin als persönliche Tragödie, nicht als gesellschaftliche Schande: dieses Haltung prägte Warren fortan. Seit 1995 habe sie nicht mehr republikanisch gewählt, sagte sie.
Dafür machte sie sich auf einen Kreuzzug gegen die Raffgier der Banken und die Korruption der Washingtoner Politiker. Das hat sie nun, mehr als zwei Jahre vor der nächsten Präsidentschaftswahl, zur Königin des linken Parteiflügels der Demokraten gemacht. Wo Warren auftritt, tobt ihr Jubel entgegen. Auch eine Plattform von Unterstützer namens „Ready for Warren“ hat sich bereits geformt.
Etwas beliebter als Joe Biden
Die Träume von einer linken, volksnahen Präsidentschaftskandidatur gibt es alle vier Jahre. Und alle vier Jahre zerplatzen sie: mit Schaudern erinnert man sich heute an Howard Deans Selbstzerstörung in den Vorwahlen 2004. Warren kommt in einer Umfrage der Quinnipiac University auf elf Prozent Zuspruch unter Demokraten. Sie liegt damit knapp vor Vizepräsident Joe Biden – aber Welten hinter Hillary Clinton, die 57 Prozent der Parteimitglieder unterstützen. „Sie hat keinen ernsthaften demokratischen Herausforderer“, kommentierte Tim Malloy von der Quinnipiac University dieses Ergebnis.
Ihre Chancenlosigkeit ändert nichts daran, dass sich viele Demokraten wünschen, dass Warren so lange wie möglich im Rennen bleibt. Nur so sei nämlich dafür gesorgt, dass Clinton, die sechsstellige Redehonorare von Investmentbankern erhält und sich darüber beklagt, nach dem Ende der Amtszeit ihres Gatten Bill „bettelarm“ gewesen zu sein, regelmäßig auf den Boden der Realität geholt wird. Nicht nur Clinton, sondern auch die meisten anderen Washingtoner Politiker leben in einer privilegierten Blase. Mehr als jeder zweite Senator ist Millionär, kaum einer wagt es, Spenden (und die daran geknüpften Begehrlichkeiten) der Finanzlobbyisten abzulehnen.
Die Hoffnung des linken Flügels könnte illusorisch sein. „Außenseiter können sagen, was sie wollen“, hat Larry Summers, Finanzminister unter Clinton, Warren im März 2009 geraten. „Aber die Insider hören nicht auf sie.“
ZUR PERSON
Elizabeth Warren (*22. Juni 1949) stammt aus einer Familie der unteren Mittelschicht, die in der Großen Depression schwer gelitten hat. Sie bekam ein Stipendium, studierte Pädagogik, später Jus und spezialisierte sich in den 1980er-Jahren auf das Konkursrecht. 2007 erregte sie mit einem Appell für die Schaffung einer Verbraucherschutzbehörde das Interesse des Präsidentschaftskandidaten Barack Obama. Er macht die Harvard-Professorin zur ersten Chefin des neuen Consumer Financial Protection Bureau. Seit 2012 sitzt sie für Massachusetts im Senat.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.08.2014)