Die bizarre Welt des "Islamischen Staats"

People walk through the rubble of the Prophet Younis Mosque after it was destroyed in a bomb attack by militants of the Islamic State, formerly known as ISIL, in the city of Mosul
People walk through the rubble of the Prophet Younis Mosque after it was destroyed in a bomb attack by militants of the Islamic State, formerly known as ISIL, in the city of MosulREUTERS
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Die Terrorgruppe IS hat große Teile Syriens und des Irak unter ihre Kontrolle gebracht. In ihrem neuen "Kalifat" ist kein Platz für Andersdenkende und alte Heiligtümer.

Das ist das Ende von Prophet Jonas, oh Gott, diese Schurken!“, hört man den entsetzten Videofilmer rufen. Sekunden zuvor hatte eine gewaltige Explosion die weit über die nordirakische Stadt Mosul hinaus bekannte sunnitische Pilgerstätte mit ihrem grazilen Minarett zerfetzt. Erst hatten die Bewaffneten des „Islamischen Staats“ (IS) alle Gläubigen aus dem Gotteshaus vertrieben, dann die Straßen im Umkreis von 500Metern abgesperrt. „Das ist kein Ort des Gebets, sondern der Gotteslästerung“, pöbelten die Steinzeit-Islamisten. Innerhalb von 60 Minuten verminten sie das Mausoleum, das jahrhundertelang als Wahrzeichen für die religiöse und kulturelle Verwobenheit der Region gegolten hatte. Danach traf die IS-Zerstörungswut auch das Heiligtum des biblischen Seth, zu dem schiitische Gläubige als dem dritten Sohn von Adam und Eva beten, sowie das Grab des Juden Daniel, den Muslime als Propheten hoch achten. „Jonas, dessen Geschichte in Bibel und Koran steht, war ein Prophet für alle“, betont Fawziya al-Maliky vom irakischen Tourismusministerium in Bagdad. „Wir wissen nicht, was diese bornierten Militanten im Kopf haben“, sagt sie. „Wir wissen nur eines: Sie wollen ein Ende der Zivilisation.“

Archäologische Stätten in Gefahr. 50 islamische Gotteshäuser machten die IS-Fanatiker bereits im Irak dem Erdboden gleich. Ebenso gefährdet sind auch die vorislamischen Schätze Mesopotamiens. Allein in der Region Mosul gibt es etwa 1800 archäologische Fundstätten, darunter vier Hauptstädte des assyrischen Großreichs sowie 250 Kulturbauten des Altertums.

Dem Personal des Nationalmuseums von Mosul kündigten die Extremisten an, die ausgestellten antiken Statuen seien „gegen den Islam“. Sie würden nur noch auf eine Fatwa ihres neuen Kalifen, Abu Bakr al-Baghdadi, warten. Al-Baghdadi ist der Chef der Gruppe Islamischer Staat, die sich früher Islamischer Staat im Irak und der Levante (Isil) genannt hat. Isil war zunächst vor allem in Syrien aktiv. Anfang Juni starteten die Jihadisten mit verbündeten Gruppen einen Eroberungsfeldzug im Norden des Irak und eroberten Mosul. Ende Juni benannte sich Isil in „Islamischer Staat“ (IS) um und rief ein Kalifat in den von der Gruppe besetzten Gebieten in Syrien und im Irak aus. Al-Baghdadi wurde zum Kalifen, dem geistlichen und politischen Herrscher, ernannt.

„Häretischer“ Tanz. Der barbarische Kulturkampf des IS mit Dynamit und Bulldozern trifft keineswegs nur Christen und Juden, er trifft ebenso moderate sunnitische und schiitische Muslime. Ideologisch zählt der IS zur salafistisch-wahhabitischen Strömung des Islam, die ihre Wurzeln auf der arabischen Halbinsel hat und seit Jahrzehnten mit Milliarden saudischer Petrodollars im gesamten Nahen Osten propagiert wird. Egal, ob in Tunesien, Mali, Libyen, Ägypten, Syrien oder jetzt im Irak – die Begründung der puritanischen Extremisten für ihre Kulturfrevel klingen überall gleich. Ekstatischer Tanz, wie ihn Sufi-Anhänger praktizieren, sei häretisch, die Verehrung von Gräbern populärer Frommer „unislamisch“, weil Vielgötterei. Einzig Allah dürfe angebetet werden, dekretieren sie und träumen von einer Rückkehr zum „einzig wahren Islam“ der Zeiten Mohammeds und seiner Gefährten.

Die Männer lassen sich Bärte wachsen, tragen knöchellange Galabijas und putzen ihre Zähne mit Stöckchen aus Miswakholz. Koran und Scharia verstehen sie als ihre alleinige moralische Richtschnur. Mit Rechten für Frauen und Minderheiten haben sie nichts am Hut. Dafür ziehen sie mittlerweile eine Spur der Verwüstung durch den gesamten Orient.


Zerstörte Sufi-Heiligtümer. In Ägypten und Tunesien zerstörten Salafisten mindestens 70 Sufi-Stätten. In Libyen demolierten die Eiferer reihenweise islamische Heiligtümer, Friedhöfe und römische Statuen, darunter auch die Moschee in Zlintan, in der ein Sufi-Gelehrter aus dem 15.Jahrhundert verehrt wird. Die Täter wollten den Heiligen exhumieren, ihn an geheimer Stelle verscharren, um seine Anbetung unmöglich zu machen. Fünf Meter tief wühlten sie sich in den Boden unter dem Sarkophag, sterbliche Überreste fanden sie nicht. Im malischen Timbuktu, der legendären Stadt der 333 Heiligen, brandschatzten „Gotteskrieger“ die Hälfte der 16 Sufi-Mausoleen, die zum Weltkulturerbe gehören.

„Leider sieht es nicht gut für das kulturelle Erbe in Mosul aus“, beklagt Aymen Jawad, Direktor der britischen Organisation Iraq Heritage. „Eine der ältesten Städte des Orients wird gerade in die nächste kulturelle Wüste verwandelt, zielstrebig planiert von diesen radikalen Gruppen, während der Rest der Welt untätig dasitzt und zuschaut.“

Einige muslimische Bewohner Mosuls allerdings nahmen selbst das Heft in die Hand. Als der IS sich auch das schiefe al-Hadba-Minarett der Großen Moschee vornehmen wollten, das wegen seiner Neigung im Volksmund „der Buckel“ heißt, war eine Handvoll beherzter Bürger zur Stelle. Sie verbarrikadierten sich in dem Turm, lieferten sich heftige Wortgefechte mit den IS-Kämpfern, die nach einigen Stunden tatsächlich abzogen. Ein Sieg auf Zeit – denn allen war klar: Die Extremisten werden wiederkommen.

25.000 Christen vertrieben. „Woher beziehen diese Terroristen ihre Waffen? Von den fundamentalistischen Staaten am Golf, stillschweigend gebilligt von westlichen Staatslenkern, weil sie deren Öl brauchen“, sagt der syrisch-katholische Patriarch Ignatius Joseph III. Younan. IS-Kämpfer haben das Ordinariat seiner Kirche in Mosul niedergebrannt und alle 25.000 Christen der Stadt vertrieben. Es gebe nur einen Weg, diese Kommandos zu stoppen. Man müsse ihnen die Geldflüsse entziehen, sagt der Geistliche.

Die USA und die EU wissen schon lange, dass die gekrönten Häupter Kuwaits, Katars, der Emirate und Saudiarabiens die Augen zudrücken, wenn superreiche Privatleute, salafistische Stiftungen und Moscheevereine sunnitische Kämpfer finanzieren, damit diese gegen Syriens Machthaber, Bashar al-Assad, und Iraks schiitischen Präsidenten, Nouri al-Maliki, zu Felde ziehen. Beide Regime sind den sunnitischen Emiren und Königen am Golf schon lange ein Dorn im Auge, weil sie schiitisch dominiert sind und enge Kontakte zum Erzfeind Iran pflegen.

„Saudiarabien bleibt ein entscheidender Geldgeber von al-Qaida, den Taliban und anderen Terrorgruppen“, urteilte laut WikiLeaks bereits 2009 die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton. 15 der 19Attentäter vom 11.September 2001 stammten aus dem Königreich, mittlerweile sind nach Schätzungen diverser Geheimdienste 3000 bis 4000 junge Saudis in Syrien auf „heiligem“ Kriegspfad, die meisten in den Reihen der schwarzen Kommandos des „Islamischen Staats“ (IS).

2400 Petrodollar kostet die „Patenschaft“ für einen Gotteskrieger – auf Wunsch wird die Spende von den Terror-Rekrutierern auch mit einem Kurzvideo des jungen Mannes in Aktion honoriert. Entsprechend überschwänglich war der Jubel in Sponsorenkreisen nach dem Blitzvorstoß der bestens ausgestatteten IS-Kolonnen in Richtung Bagdad. „Was im Irak passiert, ist eine Revolution des Volkes gegen Unterdrückung und Tyrannei“, twitterte ein kuwaitischer Scheich, der seit zwei Jahren mit Geldkoffern zu „seinen Brigaden nach Syrien“ reist.

Saudische Doppelstrategie. Bisher setzten die Herrscher am Golf auf eine Doppelstrategie: Außerhalb ihres Landes betrachteten sie die „frommen“ Militanten als nützliche Instrumente im Kampf gegen den schiitischen Einfluss in der Region. Im Inneren dagegen gingen sie gegen deren Treiben mit aller Polizeimacht vor, wie zuletzt im Mai gegen einen Ring von IS-Werbern in Riad, Saudiarabiens Hauptstadt.

Spätestens seit dem Drama im Irak aber ist klar, dass diese Rechnung nicht mehr aufgeht. Denn die triumphierenden Krieger fühlen sich beflügelt, nun auch ihre Gönner am Golf ins Visier zu nehmen – Twitteraufrufe zum Marsch gegen das „Haus Saud“ kursieren bereits, in der saudischen Hauptstadt tauchten erste IS-Graffiti und Flugblätter auf. Eilig dekretiert nun ein Golfstaat nach dem anderen Antiterrorgesetze, die allen Jihadisten und ihren Helferhelfern schwere Strafen androhen – und dabei Bürgerrechtler gleich mit hinter Gitter bringen.

Inzwischen verfügt der IS aber auch über Einnahmequellen, die sich jedem staatlichen Zugriff entziehen. Die Jihadisten verkaufen Öl aus eroberten Förderregionen in Syrien und Irak, betreiben Kidnapping und Schutzgelderpressung in geradezu industriellem Ausmaß und zwingen ihren neuen Untertanen Sondersteuern ab. Ölexperten schätzen, dass die IS-Verbände mittlerweile eine Million Dollar pro Tag aus dem Verkauf von irakischem Rohöl einnehmen, umgeschlagen im Städtchen Tuz Khurmatu südlich von Mosul. Kurdische Mittelsmänner sollen die Lieferungen aufkaufen, die dann per Tanklastwagen durch autonome Kurdenregion in die Türkei und den Iran gebracht werden.

„Die bedrohlichsten Gruppen sind jene, denen es gelingt, ihre Finanzierung von externen auf interne Quellen umzustellen“, urteilt Tom Keatinge, ein ehemaliger JP-Morgan-Banker, der sich auf Terrorfinanzierung spezialisiert hat. „Der IS hat das in bisher unbekannten Dimensionen gesteigert. Das Geld, über das sie verfügen, entspricht inzwischen dem Militärhaushalt eines kleinen europäischen Landes.“

Airlines

Mehrere internationale Fluglinien meiden seit einigen Tagen den irakischen Luftraum, darunter auch die Lufthansa-Tochter AUA. Vorerst sollen die Flüge bis Sonntag umgeleitet werden. Auch die Flüge nach Erbil im Norden des Landes werden für diese Zeit eingestellt. Die AUA fliegt Erbil im Norden täglich an, die Lufthansa zweimal pro Woche.

Fakten

50islamische Tempel
wurden von IS-Fanatikern im Irak bereits zerstört.

1800antike Fundstätten gibt es allein in der irakischen Region Mosul. Sie sind nun in Gefahr.

25-tausend Christen mussten aus Mosul flüchten.

4000junge Saudis kämpfen in Syrien unter dem Banner des „Islamischen Staats“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.08.2014)

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