Irak: Wer stoppt das neue "Kalifat"?

(c) REUTERS (ALAA AL-MARJANI)
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Der Vormarsch der Extremisten vom „Islamischen Staat“ scheint unaufhaltsam, sogar die gut organisierten Kurdenkämpfer sind in der Defensive. Nun drohen der Minderheit der Yeziden Massaker.

„Entweder ihr tretet zum Islam über, oder ihr werdet getötet.“ Das war die Alternative, vor die die Extremisten vom „Islamischen Staat“ (IS) eine Gruppe junger Männer in der gerade eroberten nordirakischen Stadt Sinjar stellten. Die 67 (nach anderen Quellen 88) Gefangenen gehörten zur religiösen Minderheit der Yeziden – und sie entschieden sich für den Tod. Die Jihadisten zögerten nicht lange und erschossen ihre Opfer.

Auf ihrem bisher unaufhaltsamen Vormarsch hatten die IS-Kämpfer am Sonntag Sinjar und zwei weitere Städte im Handstreich erobert, dabei nicht nur das bereits fünfte Ölfeld, sondern auch noch Iraks größten Staudamm unter ihre Kontrolle gebracht, also die zwei entscheidenden Ressourcen.

Und wieder ist ihnen mit Sinjar eine Stadt mit einer signifikanten religiösen Minderheit in die Hände gefallen. Im Juni hatte der IS nach der Einnahme der Millionenstadt Mosul alle dort noch ausharrenden 25.000 Christen vertrieben, nun ging es gegen die kurdischen Yeziden, deren Gemeinschaft im Irak auf eine halbe Million geschätzt wird. Die monotheistischen Yeziden gelten den Extremisten als „Teufelsanbeter“ und sind quasi völlig vogelfrei. Vertreter der yezidischen Diaspora warnen, dass ihren Glaubensbrüdern der Genozid drohe.

Alarmierend ist die Eroberung des Gebiets auch deshalb, weil es bisher unter Kontrolle kurdischer Peshmerga-Kämpfer war, also jener Kraft, die bis dato die einzige schien, die dem IS Paroli bieten konnte. Doch auch sie mussten zurückweichen. Ein Peshmerga-Vertreter stellte das am Montag gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters als taktischen Rückzug dar. Man werde aber alsbald eine große Zahl an Kämpfern zusammenziehen und zurückschlagen: „Wir werden sie angreifen, bis sie komplett vernichtet sind, und wir werden keine Gnade zeigen.“ Nach zunächst ersten Meldungen vom Nachmittag sollen den kurdischen Kämpfern bereits erste Geländegewinne gelungen sein.

Die jüngste Offensive der Jihadisten scheint wie eine Schockwelle gewirkt und einiges in Bewegung gesetzt zu haben: Iraks Premier Nouri al-Maliki befahl der Luftwaffe Angriffe, explizit zur Unterstützung der Peshmerga. Das ist insofern bemerkenswert, als Iraks Kurden unter ihrem Regionalpräsidenten Massoud Barzani jüngst mit der Vorbereitung eines Unabhängigkeitsreferendums begonnen haben. Der irakische Staat kämpft also an der Seite jener, die sich eigentlich von ihm lösen wollen, der gemeinsame Feind IS lässt die Differenzen in den Hintergrund treten. Auf den Plan gerufen wurde auch Saudiarabien, spätestens seit die Jihadisten drohten, auch dort einzumarschieren und die Kaaba, das höchste Heiligtum des Islam in Mekka, zu zerstören, da es dem Götzendienst diene.

Furor gegen Schiiten, Sufis und Christen

Der Vormarsch des IS im Irak begann erst Anfang Juni. Zuvor war die Gruppe vor allem in Syrien aktiv, wo sie sich als wesentliche Kraft im Bürgerkrieg etabliert hatte. Nach der Eroberung von Mosul rief IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi am 29.Juni ein Kalifat aus und erhob sich selbst zum Kalifen. Seither gehen seine Kämpfer in ihrem Herrschaftsgebiet rigoros gegen alle religiösen Minderheiten vor. Bisher richtete sich ihr Furor vor allem gegen Christen und Schiiten und Sufis, zahlreiche Gotteshäuser fielen der Zerstörung anheim. Die Armee schien bisher machtlos; Videos, in denen IS-Kämpfer Gefangene köpfen, lösten Fluchtreflexe innerhalb der Sicherheitskräfte aus.

Schon einmal, vor acht Jahren, hatten Jihadisten – es waren die Vorläufer des IS – Teile des Irak unter ihre Kontrolle gebracht. Neben einer Truppenaufstockung der USA hat damals vor allem das Einbinden sunnitischer Stammesführer die Extremisten zurückgedrängt. Doch US-Truppen gibt es im Irak quasi keine mehr. Und zahlreiche sunnitische Stammesführer haben dank der dezidiert antisunnitischen Politik von Premier Maliki heute Allianzen mit dem IS.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.08.2014)

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