Irak: 100.000 Christen sind auf der Flucht

(c) REUTERS (STRINGER/IRAQ)
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Die Kämpfer des Islamischen Staates (IS) treiben 100.000 Christen in die Flucht. Patriarch Sako fordert internationale Hilfe.

Kairo/Erbil. Der chaldäische Patriarch Louis Raphaël Sako spricht von einem „humanitären Desaster“; in Erbil, der Hauptstadt der autonomen Kurdenregion im Irak, geht die Angst um. „Die Brigaden des Islamischen Staates rücken in alle Richtungen vor“, berichteten Augenzeugen und sprachen von einer „dramatischen Situation“. Im Handstreich haben die Kämpfer des Islamischen Staates (IS) in der Nacht auf Donnerstag im östlichen Umkreis von Mosul sämtliche von Christen bewohnte Städte erobert, darunter Qaraqosh, Tal Kaif, Bartella und Karamlesh. Inzwischen stehen ihre Verbände 40 Kilometer vor Erbil im Grenzgebiet zum kurdischen Nordirak. An allen Fronten drängten die Gotteskrieger, die mittlerweile über 30.000 Mann verfügen, die kurdischen Peshmerga zurück. Bereits am vergangenen Wochenende mussten die Peshmerga mehrere empfindliche Niederlagen einstecken.

Auch die Gefahr für den Mosul-Staudamm ist noch nicht gebannt, obwohl die Kurden am Donnerstag erneut einen IS-Angriff auf das größte irakische Wasserreservoir abwehren konnten, von dem die Versorgung von Millionen Menschen abhängt.

Entweihte Kirchen

Nach Angaben des chaldäischen Patriarchen flüchteten am Donnerstag 100.000 Christen in Richtung Kurdengebiete, die meisten nur mit ihren Kleidern am Leib, viele zu Fuß – eine der größten Tragödie der irakischen Christen in den vergangenen Jahren. In Rom beschwor Papst Franziskus die internationale Gemeinschaft, die schutzlosen Menschen nicht im Stich zu lassen. Sämtliche Kirchen in den eroberten Städten wurden von den IS-Extremisten entweiht, die Kreuze heruntergerissen, Bibliotheken mit wertvollen Manuskripten zerstört.

Vor den Christen hatte IS bereits 200.000 Angehörige der Religionsgruppe der Yeziden aus der Region Sinjar westlich von Mosul in die Flucht getrieben. Tausende von ihnen müssen sich ohne Wasser und Essen in den zerklüfteten Bergen vor den IS-Angreifern verstecken. Bei einem Massaker sollen hunderte Männer erschossen, ihre Frauen und Töchter als Geiseln genommen worden sein, um sie zu Ehen mit Jihadisten zu zwingen.

Die irakischen Yeziden sprechen überwiegend Kurdisch und werden von islamistischen Arabern als „Teufelsanbeter“ und Ketzer verunglimpft. In ihrem über 4000 Jahre alten Glauben vereinen sie Elemente des Islam mit Ideen altpersischer Religionen.

Weder die kurdischen noch die irakischen Streitkräfte scheinen den IS-Kämpfern, die in den vergangenen Wochen in Syrien und im Irak große Mengen an modernen Waffen, Panzern und Fahrzeugen erbeuten konnten, bisher gewachsen. Im Osten Syriens eroberten sie am Donnerstag eine weitere große Kaserne der Armee von Machthaber Bashar al-Assad. Drei Selbstmordattentäter sprengten das Haupttor zur Militärbasis auf. Dann drangen IS-Kämpfer auf das Gelände vor. Bei den Kämpfen starben nach ersten Angaben Dutzende Soldaten.

In Bagdad greifen die Jihadisten offenbar jetzt vom Süden her an, nachdem ihr Vormarsch im Norden nahe der Stadt Samarra vorerst gestoppt werden konnte. IS-Kommandos sollen inzwischen nur noch 20 Kilometer von der südlichen Stadtgrenze Bagdads stehen und bereits im Umfeld des internationalen Flughafens operieren. Nach Angaben irakischer Geheimdienstler machen sie sich dabei unter anderem ein altes Tunnelsystem zunutze, das unter dem 2003 gestürzten Machthaber Saddam Hussein angelegt worden ist.

Kurden verlangen Waffen

Die kurdische Regionalregierung richtete angesichts der Eskalation einen dringenden Appell an „die USA, die internationale Gemeinschaft und an alle Feinde des Terrorismus“, mit Luftangriffen und Waffenlieferungen zu Hilfe zu eilen. Frankreich forderte eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats.

Nach Augenzeugenberichten landen Anfang der Woche erste Transportmaschinen mit modernen Panzern und Artilleriegeschützen auf dem Flughafen von Erbil. Die Kurden besaßen bisher nur alte Panzer sowjetischer Produktion, die sie 2003 nach der US-Invasion aus den Depots von Saddam Hussein beschlagnahmen konnten.

Die USA schickten in den vergangenen beiden Monaten etwa 800 Militärberater in den Irak, die vor allem in Bagdad und Erbil stationiert sind. „Die nationale Regierung ist unfähig, das Volk zu verteidigen, genauso wie die kurdische Regierung“, zitiert AFP den chaldäischen Patriarchen Sako. „Ich hoffe“, fügte er hinzu, „es ist noch nicht zu spät, einen Völkermord zu verhindern.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.08.2014)

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