Analyse: Die Türkei des Recep Tayyip Erdoğan

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Der Premier hat seinen Aufstieg gut geplant und kalkuliert. Mit der Theatralik hat Erdoğan erst begonnen, als er bereits ein gemachter Mann war. Dem Land hat er einen unvergleichlichen Wohlstand beschert.

Als Reaktion auf die Frage, wie ein Mann wie Recep Tayyip Erdoğan ein derart erfolgreicher und mächtiger Politiker geworden ist, den nichts und niemand erschüttern kann, gibt es freilich unzählige Antworten, Spekulationen, Analysen und Feststellungen. Dabei ist die Beantwortung zunächst einmal sehr einfach: Erdoğans Aufstieg gelang nur, weil die kemalistisch-säkulare Elite des Landes sowie das Militär versagt haben. Als Hüter der Prinzipien von Staatsgründer Atatürk haben die Generäle jahrzehntelang nach Gutdünken geschaltet und gewaltet, damit sie den Säkularismus wahren und den Blick gen Westen gerichtet halten können, dabei haben sie aber auf das Wesentliche vergessen, nämlich darauf, dem riesigen Land zu ihren Füßen und seinen Bürgern Arbeit, Geld, Bildung, Stabilität und soziale Absicherung zu geben. Hochmut, Arroganz und die Inkorporation von korrupten Methoden dieser Elite taten ihr Übriges. Und dann kam Erdoğan.

Jedem Politiker – und derer gab es einige –, der diesem Filz ernsthaft den Kampf erklärte, war der Rückhalt des Volkes sicher. Funktioniert hat es aber nur bei Erdoğan, dem in Istanbul in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsenen Sohn von Emigranten von der Schwarzmeerküste – und auch das ist schnell erklärt: Der machtbewusste Erdoğan hat seinen Weg nach oben genau durchkalkuliert. Dank seinem politischen Talent, seiner Wandlungsfähigkeit und vor allem dank günstiger äußerer Umstände ist die Rechnung auch aufgegangen.

Erdoğans Politisierung fand in der Bewegung des Politikers Necmettin Erbakan statt, die ultranationalistische, islamistische, antiwestliche sowie antisemitische Tendenzen vereinigte. In den Wirren der 1990er-Jahre lagen sich die Anhänger Erbakans mit den Militärs ständig in den Haaren – und Erdoğan hat erkannt, dass eine politische Partei ohne die Zustimmung des Militärs keinen Erfolg haben wird. Als er 2001 seine Partei AKP gründete, hat Erdoğan ganz bewusst die extremistischen Tendenzen der Erbakan-Bewegung abgelegt. Er hat den öffentlichen Blick – wie von den Militärs gutgeheißen – nach Westen gelenkt, Richtung EU-Beitritt, auf die Wirtschaft, Bildung, Infrastruktur und den Tourismus.

Rundumschlag gegen die Generäle

Während in der Türkei also geschäftiges Treiben herrschte, hat Erdoğan mit seiner AKP auch an der Loslösung vom säkularen Staat gearbeitet. Spätestens die Lockerung des Kopftuchverbots für Studentinnen (ab 2008) hat die Kluft zwischen AKP und Kemalisten im Land verdeutlicht, aber zu diesem Zeitpunkt war Erdoğan bereits ein gemachter Mann. Der wirtschaftliche Aufschwung im Land hat die viel zitierte konservative bis liberale Mittelschicht hervorgebracht, die Erdoğans Eingriff in den säkularen Staat ignoriert, mindestens aber hingenommen hat. Den anfänglichen „Waffenstillstand“ mit dem Militär konnte Erdoğan ausnutzen, die Generäle nicht.

Als die Kluft zwischen den beiden Polen bereits tief war, hat die Regierung im vergangenen Jahr zum Rundumschlag gegen die Armee ausgeholt und viele hochrangige Militärs (aber auch unliebsame Gegner wie Journalisten) im Zuge des Ergenekon-Prozesses festnehmen lassen. Ihnen wird die Arbeit an einem Parallelstaat vorgeworfen, an einem Sturz der AKP-Regierung – und die Bevölkerung nahm die Nachricht der Verhaftungen durchaus wohlwollend auf: Die Geschichte des Ergenekon-Parallelstaates geistert bereits seit Jahrzehnten durch die Türkei und sorgt für Unbehagen.

Dieser endgültige Schlag gegen die Militärs gelang Erdoğan hauptsächlich deswegen, weil sich ein weiterer strategischer Schritt als fruchtbar erwiesen hat: die Allianz mit dem Prediger Fethullah Gülen, der in den USA lebt. Beiden gemeinsam war die Gegnerschaft zur Armee und eine tiefe Religiosität. Gülen verfügt über ein weites Netz an Anhängern und – noch wichtiger – Medienkonzernen, die die AKP nach oben gepusht haben. Dafür durften die Gülenisten ihre Schulen in der Türkei betreiben, man ging also eine Zweckgemeinschaft ein, die sich wiederum für Erdoğan bezahlt gemacht hat.

Die Gülen-Anhänger sind vor allem in der Justiz und im Polizeiapparat stark vertreten, dadurch konnte Erdoğan etwa beim Ergenekon-Prozess so hart durchgreifen. Als es zum Bruch zwischen den beiden kam, hat die Justiz noch einen Versuch gestartet, die Regierung empfindlich zu treffen – im Dezember 2013 wurden drei Ministersöhne bei einer groß angelegten Razzia festgenommen –, aber diesen Schlag hat die AKP mit einer eigenen Verhaftungswelle gerächt. Zwischenzeitlich hat der Premier Justiz und Polizei von den Gülen-Anhängern „gesäubert“. Die Befürchtung, dass mit dem Bruch mit Gülen das Fundament der AKP zusammenbrechen würde, hat sich nicht erfüllt. Denn auch zu diesem Zeitpunkt war Erdoğan ein gemachter Mann, der erneut einen Freibrief von seinen Wählern erhalten hatte.

Selbst die Anerkennung und Zusammenarbeit mit der kurdischen Minderheit im Land ist eine Strategie, die simpel aber wirkungsvoll ist. Durften die Kurden bis vor einigen Jahren nicht einmal ihre Sprache frei sprechen, hat ihnen die AKP weitreichende Rechte zugestanden. Viele Kurden bedanken sich dafür freilich mit einer Wahlstimme.

Korruption und Proteste

Dass die Wirtschaft blühen und sich seine Allianzen als effektiv erweisen würden, konnte Erdoğan auch nicht gleich wissen. Er hat aber stets seinen Willen durchgesetzt, auch mit einer rüden Art, wenn es sein musste. Und er hat ab dem Zeitpunkt mit der politischen Theatralik begonnen, als er schon in der Bevölkerung als der starke Mann angekommen war: die blutige Niederschlagung der Gezi-Proteste, ein sagenhafter Korruptionsskandal, das kurzzeitige Verbot von Twitter und Facebook, Restriktionen des Alkoholkonsums, antiisraelische Parolen nach dem Vorfall rund um die Gaza-Flottille Mavi Marmara usw. In seinen Anfangsjahren hätte Erdoğan kaum so reagiert, wie er es heute gerne tut. Denn das hätte ihn nicht an die Spitze der Regierung gebracht – und am Sonntag nach den Präsidentschaftswahlen wohl auch erneut bringen wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.08.2014)

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